Inzestuöse Familie Rock ‘n‘ Roll

Seht her, all ihr versoffenen Altmetaller, wir sind die Jugend und haben das Recht des Jetzt! The Darkness räumten Dienstag in London die Brit Awards ab und glamrockten am Donnerstag das ColumbiaFritz – mit stolzen Gesten gegen den Fake-Vorwurf

Mit dem Spaß an seinem eigenen Sein hat Justin Hawkins ein Argument auf seiner Seite Völlig Neues ist heute im Bereich der Rockmusik sowieso kaum möglich

VON HENNING KOBER

Noch am Dienstag waren sie die großen Gewinner der Brit Awards in London. Beste Band, bester Rock-Act und bestes Album für ihr Debüt „Permission to Land“, drei Auszeichnungen wurden den britischen Glamrockern The Darkness in die Hände gejubelt. Zudem sicherten sie sich den Sieg in der inoffiziellen, aber wichtigen Kategorie „Beste Ankunft am roten Teppich“. Zur Verleihung fuhren sie im bandeigenen Ford Mustang „Rockingham“ vor. Der Bleifuß des Fahrers und Frontmanns Justin Hawkins zuckte gewaltig und jagte den wartenden Fotografen eine große Ladung Unverbleites in die Nasen. Ein Auftritt, wie ihn die Duke-Brüder aus der gleichnamigen großartigen US-Fernsehserie nicht besser hinbekommen hätten.

Dann ließen sie sich, wie später auf der Bandhomepage genau vermerkt, von einer Phalanx aus Hells Angels in die Halle eskortieren. Ob es wirklich echte Hells Angels waren? Zumindest waren es schweren Jungs, die nach Easy Rider aussahen. Im Zeitalter des ständigen Recyclings im Musikgeschäft werden feinsinnige Unterscheidungen zwischen dem „Echten“ der Mutteridee und ihrem Klon immer nebliger, vielleicht auch unbedeutender. So argumentiert auch Justin Hawkins, der jedoch mit dem Spaß an seinem Sein ein gewichtiges Argument auf seiner Seite hat. Der Vorwurf des Fakes, der Inszenierung einer Zeit- Loop-Illusion mit neuen Gesichtern, klebt trotzdem wie Blei am Gesamtkunstwerk The Darkness.

Und so beginnt das Berlin-Konzert der Band im ColumbiaFritz am Donnerstagabend ebenfalls illusionistisch. Hinter einem weißen Tuch steht ein Schatten. Eine Gitarre um die Lenden formt den Körper zum Kreuz. Aus den Boxen rauschen die ersten Riffs. Gelbe Scheinwerfer blenden die gespannten Augen. Dann stirbt das Schattenspiel, und ganz real stehen die vier Jungen von The Darkness auf der Bühne. Klassische Aufstellung, links tritt Dan Hawkins im zerfransten T-Shirt seine Gibson Les Paul, rechts der bärtige Bassist Frankie Poullain, ein Stoffband um die Stirn. Wie gewohnt im Hintergrund Ed Graham, der Schlagzeuger der Dunkelheit, die Augen versteckt hinter einer riesigen Sonnenbrille aus Kajal. Center Stage im Kreis des Kanonenscheinwerfers gehört aber natürlich Frontmann Justin Hawkins, der überraschenderweise zunächst kein Exemplar seines Lieblingsfetischs, des Spandex-Anzugs, trägt.

Dieses einteilige brustfreie Kleidungsstück aus Stretch ist normalerweise die zweite Haut des langmähnigen Sängers. Stattdessen eine rot-weiß-rot längs gestreifte Latexhose an den Beinen, den Bund knapp über dem Genital sitzend, sodass die Mädchen in der ersten Reihe zumindest die obere Hälfte seiner großflächigen Unterleibstätowierung sehen können. Sein Oberteil ist vernachlässigenswert, er entledigt sich dessen schon beim zweiten Song. Es ist eine stolze Geste, mit der er seinen breitschultrig trainierten, haarlosen Oberkörper in die Menge streckt, im Spagatsprung streckt, nach hinten spannt, wenn er die Gitarre drischt. Seht her, all ihr versoffenen Altmetaller, ihr könnt in traurigen Interviews unsere Musik, so lang ihr wollt, als Diebstahl eures Lebens beklagen, wir sind die Jugend und haben das Recht des Jetzt.

Die Macht des Glamrock, schon längst in schönen Historienfilmen wie „Velvet Goldmine“ abschließend behandelt, erfährt durch The Darkness eine unerwartete Auferstehung und ergibt sich aus der Leere, die traurige Britpopverhunzerbands wie Travis und Coldplay nach den unerreicht coolen Oasis hinterlassen haben. An diesem Abend im völlig überfüllten ColumbiaFritz funktioniert das auch deshalb so gut, weil die Jungen und Mädchen im Publikum schon jung genug sind, von ihren Vätern und älteren Geschwistern Queen-, AC/DC- und Lep-Zeppelin-Schwärmerein miterlebt zu haben. Sie wollen es. Wollen Justin Hawkins antworten, wenn er „Fuck“ und „Cunt“ in die Menge schreit. Wollen Spagat springen. Wollen die Finger zum Teufelsgruß strecken.

Noch funktionaler als etwas völlig Neues, was heute musikalisch im Bereich der Rockmusik sowieso kaum möglich ist, ist die Elternschaft des Legendären, gepaart mit frischer Euphorie aus neuen Gesichtern. Trotzdem blitzt an manchen Momenten des Abends, während die Band fast das gesamte Repertoire ihres millionenfach verkauften Debütalbums in feiner Soundabstimmung vorträgt, der Schreck des Karaokehaften auf. Zu viele brav blondierte Mädchen trümmern wilde Armbewegungen in die Luft, während das H&M-Top den Bauch freistreckt. Zu wenige Jungen wissen um ihr zweites Gesicht, das Kajal und Lidschatten trägt. So ist Justin Hawkins ein gefeiertes, aber auch misstrauisch beäugtes Role Model, das sich zum Schluss doch noch im silberfarbenen Spandex zeigt, der auch Elvis gefallen hätte. Rock ’n’ Roll ist eben eine inzestuöse Familie. Nur dass Elvis eine Vorliebe für Gold hatte.