: Sozialpolitik der Würde
In der Diskussion um Sozialreformen wird die Massenarbeitslosigkeit von der Politik nicht ausreichend skandalisiert. Auch die Linken sehen darin nur die Armutsfrage
In einer zivilisierten Gesellschaft demütigen die Menschen einander nicht, während es in einer anständigen Gesellschaft die Institutionen sind, die den Menschen nicht demütigen. Avishai Margalit, „Politik der Würde“
Es gibt eine Form der Blindheit, die nicht auf mangelndes Sehvermögen zurückzuführen ist. Bei diesem Defekt handelt es sich vielmehr um eine Wahrnehmungsschwäche im übertragenen Sinne, um eine sozial kontaminierte Blindheit. Wir übersehen einen Menschen, wir blicken an ihm vorbei, wir schauen durch ihn hindurch – er ist auf sonderbare Weise unsichtbar. Diese Unsichtbarkeit ist ein durchgehender Topos der antikolonialen Literatur, wie etwa in Ralph Ellisons Roman „Invisible Man“: Dort entwickelt der schwarze Protagonist und Ich-Erzähler, eben der unsichtbare Mann, aufgrund der zutiefst kränkenden Erfahrung rassistischer Missachtung ein erhebliches Maß an Wut, Gewaltbereitschaft und Verantwortungslosigkeit; so erst wird er sichtbar, aber auch zur latenten Gefahr für die Gesellschaft.
Die Metaphern von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit lassen sich auch auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der Massenarbeitslosigkeit anwenden. Zwar erkennen wir diese unbestreitbare Tatsache, aber wir erkennen sie in ihrer moralischen Dimension nicht an. In einer Art kollektiven Blindheit weigern wir uns, die soziale Entwürdigung wahrzunehmen, die in einer Gesellschaft der Tätigen mit dem Zustand erzwungener Arbeitslosigkeit verbunden ist und ihren Zusammenhalt bedroht: Ein wachsendes Heer von aus der Erwerbsgesellschaft Herausgefallenen, Verabschiedeten, Ausgeschlossenen, von Jugendlichen, die gar nicht erst hineinkommen, von Behinderten, deren Integration offenbar den Luxus eines blühenden Arbeitsmarkts voraussetzt. Es kann nicht ohne Folgen bleiben, einen steigenden Anteil der Bevölkerung auf den Status von bestenfalls Fürsorgeempfängern zu reduzieren – in einem Land, dessen Verfassung die Würde des Menschen für unantastbar erklärt.
Als ob wir die tiefe Krise der Erwerbsgesellschaft, welche die Fundamente des Sozialstaats unterhöhlt, nicht wahrzunehmen bereit sind, antworten wir darauf mit einer Politik der Beschwörung. Unbeirrt wie Gesundbeter predigen wir Wirtschaftswachstum und jagen dem Phantom der Vollbeschäftigung nach. Dabei wissen wir doch längst, dass die aus dem globalen Wettbewerb als Sieger hervorgegangene kapitalistische Ökonomie, vom Zwang zur Produktivitätssteigerung lebend, Arbeit entwerten, wenn nicht vernichten muss. Exklusion ist weltweit das soziale Problem Nummer eins, das auf der abgedunkelten Kehrseite einer zusammenwachsenden Welt heranwächst und zugleich aus der Wahrnehmung verschwindet. Weder eine konservative noch eine inzwischen ins fünfte Jahr gehende rot-grüne Wirtschafts- und Sozialpolitik haben verhindern können, dass wir in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert mit Massenarbeitslosigkeit leben. Der neoliberale Angriff auf den Sozialstaat wird daran ebenso wenig ändern wie der Versuch seiner sozialdemokratischen Verteidigung.
Hier sammelt sich ein zivilisatorischer Sprengstoff an, der keineswegs dadurch entschärft wird, liebe Freunde des paternalistischen Wohlfahrtsstaats, dass man das Arbeitslosenproblem zur Armutsfrage erklärt und die Opfer auf die sozialen Sicherungssysteme verweist. Der Verlust der Teilhabe an der Erwerbsgesellschaft lässt sich nicht auf ein Konsumproblem reduzieren, das mit Transferleistungen zu beantworten wäre. Nein, Geld heilt solche Wunden nicht. Denn es sind Wunden an der Selbstachtung, am Gefühl, von anderen gebraucht zu werden, am Stolz, sich seinen Lebensunterhalt selber zu verdienen. Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe mögen die Leere im Geldbeutel füllen, sie gleichen den Mangel an Zugehörigkeit nicht aus bei jenen, für deren berufliche Fähigkeiten kein Bedarf zu herrschen scheint und die sich gesellschaftlich marginalisiert fühlen müssen. Unter solchen Voraussetzungen gewährte Kompensationsleistungen wirken wie Schweigegeld, das bekanntlich korrumpiert. Indem die „Stütze“ dem Gestützten keine Aussicht auf den ungestützten Gang eröffnet, lockt sie ihn geradezu in eine regressive Versorgungshaltung. Kein Wunder, dass der verweigerte Diskurs über die Krise der Arbeitsgesellschaft dann als Faulenzerdebatte geführt wird, bei der die angeblichen Drückeberger und Kostgänger des Sozialstaats ins Visier geraten – eine offenkundige Ersatzdebatte.
An der Arbeitslosigkeit – so behaupten nun die neunmalklugen Verfechter eines fantasielosen Pragmatismus unter Hinweis auf die zuständige Wirtschaft – könne die Politik ohnehin nichts ändern, angesichts der Komplexität der Zusammenhänge könne sie höchstens an ein paar Stellschrauben drehen. Das ist ein schlichtes, systemtheoretisch aufgebrezeltes Alibiargument, das nicht nur konzeptionelle Schwächen kaschiert, sondern auch von der Verantwortung ablenkt, die mit einem demokratischen Führungsanspruch verbunden ist. Die Regierung einer reichen und zivilisatorisch hoch entwickelten Gesellschaft im Zentrum Europas ist keine Truppe von Bastlern, die das volkswirtschaftliche Geschehen bloß am Rande beeinflussen könne. Im Stellschraubenmodell hat der politische Gestaltungswille längst abgedankt. Er bleibt freilich unterfordert, wenn er sich darin erschöpft, Arbeit zu verbilligen und unvermeidliche Einschnitte ins soziale Netz durchzusetzen, ohne zugleich die vorliegenden Alternativkonzepte einer „anständigen“ Gesellschaft aufzugreifen. Diese entwerfen, kurz gesagt, die Zukunft der vita activa als zeitgemäße Mischung aus bezahlter Erwerbsarbeit, unbezahlter sozialer Tätigkeit und selbst bestimmter Freizeitbeschäftigung, während sie die Sozialleistungen an den allgemeinen Bürgerstatus koppeln, nicht länger an ein Beschäftigungsverhältnis.
Und die Linke, die SPD-Basis, die Gewerkschaften – propagieren sie etwa solche Konzepte? Ihr Protest gegen die Agenda 2010 wäre glaubwürdiger, wenn sie nicht nur den unhaltbaren Status quo verteidigen würden. Massenarbeitslosigkeit erschöpft auf Dauer nicht nur die Ressourcen, aus denen die Sozialversicherung finanziert wird. Wer dieser Entwicklung tatenlos zusieht, sollte wissen, dass er einem in Deutschland aus historischen Gründen nur marginal entwickelten rechten Populismus Auftrieb verschafft. Die soziale Exklusion wird irgendwann ein Ausmaß erreichen, wo die Ausgeschlossenen versucht sind, ihrer chronischen Demütigung, Entwürdigung und Missachtung durch eine reaktionäre Mobilisierung zu entkommen. Die rot-grünen Vordenker, die während der ersten Regierungsjahre gelegentlich mit Geistesblitzen auf die Zukunft der Arbeit haben aufwarten können, aber an Schröders letztem Sanierungsprogramm offenbar nicht mitgeschrieben haben – vielleicht sollten sie einmal den Prolog zu Ellisons „Invisible Man“ lesen oder einen Blick in Margalits „Politik der Würde“ werfen.
MARTIN ALTMEYER