: In zehn Minuten war alles anders
Heute vor einem Jahr erschoss ein ehemaliger Schüler im Erfurter Gutenberggymnasium sechzehn Menschen. Die Tat löste eine Schockwelle aus – und ist für viele schon fast wieder vergessen. Thomas, Matthias und Niklas – drei Gutenbergschüler, die damals sechs ihrer Lehrer verloren – haben versucht, sich dem Schrecken zu stellen. Ein Bericht über das Leben danach
aus Erfurt HENNING KOBER
In zehn Minuten war alles anders. Als vor einem Jahr ein Amokläufer sechzehn Menschen am Gutenberggymnasium in Erfurt tötete, war ein ganzes Land bereit zu helfen. Heute wissen die Gutenbergschüler: Deutschland vergisst schnell, und das Diktat der Normalität ist stark.
„Meine Damen und Herren Abgeordnete, gestatten Sie uns drei Schülern, uns kurz von den Plätzen zu erheben. Wir möchten unsere Reverenz den Getöteten am Gutenberggymnasium erweisen. Besonders unserer ermordeten Klassenlehrerin Gabriele Klement.“ Es sind die Worte von Thomas. Leise, fast gemurmelt, rauschen sie durch den großen, hohen Saal des Thüringer Landtags. Es ist still, kein Husten, kein Rascheln, auch der Vorsitzende des Innenausschusses sagt nichts. Der siebzehnjährige Thomas steht mit seinen Freunden Niklas und Matthias auf. Von den Zuschauerplätzen aus wirken ihre Rücken schmal. Sie alle tragen graue Sakkos, in unterschiedlichen Farbnuancen. Ihre Schultern berühren sich fast.
Die drei Freunde Thomas Brauner, Niklas Dörig und Matthias Lotz sind Schüler des Gutenberggymnasiums. Vor einem Jahr, am 26. April 2002, hat sich das Normale aus ihrer Welt verabschiedet. Sie haben erlebt, wie ihr Mitschüler Robert Steinhäuser zwölf Lehrer, zwei Schüler, die Sekretärin, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschoss. Sechs der Lehrer, die jetzt tot sind, haben in ihrer Klasse, der 10 a, unterrichtet. Gabriele Klement war seit der Fünften ihre Klassenlehrerin.
„Der Amoklauf von Erfurt“ wurde dieser Tag später genannt. Ein Tag, der alles verändern sollte. Für die betroffenen Schüler, Lehrer, Rettungskräfte, für Erfurt, ja für ganz Deutschland schien der 26. April, ein Freitag, eine ähnliche Bedeutung zu bekommen wie der 11. September, der Tag, an dem in New York das World Trade Center zusammensackte. Alles schien auf einmal in Frage gestellt. Ist das Schulsystem ein völlig verkehrtes? Unsere Gesellschaft zu kalt, zu leistungsorientiert? Warum hat niemand gemerkt, auf was der Täter zusteuerte? Und dann die Frage nach der Schuld. Sind es die Gewalt verherrlichenden Computerspiele? Die laxen Waffengesetze? Schwierige Fragen, zu denen keine einfachen Antworten passen.
Thomas, Niklas und Matthias waren heute Morgen in der Schule. Sie haben eine Informatikklausur geschrieben. Danach haben sie sich schnell umgezogen, Jeans und Pullover gegen Sakko und Stoffhose getauscht, und nun stellen sie vor dem Innenausschuss des Landtags die Ergebnisse ihrer Seminararbeit vor. Im so genannten Seminarfach, das inzwischen in vielen Bundesländern Teil der gymnasialen Ausbildung ist, forscht eine kleine Schülergruppe zu einem konkreten Thema, legt eine schriftliche Arbeit vor und präsentiert sie. Die Note zählt dann zum Abitur. Die drei Jungen haben untersucht, wie man in Deutschland als Jugendlicher oder junger Erwachsener legal eine Waffe in seinen Besitz bringen kann.
„Am Anfang“, sagt Thomas, „war ich sehr skeptisch, ob ich das wirklich kann, über so einen langen Zeitraum daran arbeiten. Aber sich intensiv damit zu beschäftigen ist vielleicht auch eine gute Methode, alles besser zu verarbeiten.“ Der Siebzehnjährige mit dem halblangen braunen Haar ist bleich. Ein bisschen krank fühlt er sich, sagt er. Vielleicht Grippe, vielleicht auch nur die Anspannung.
„Wir möchten, dass im Thüringer Schulgesetz festgeschrieben wird, dass die Schule nach Verhaltensauffälligkeiten des Schützen gefragt wird, bevor das Ordnungsamt die Erlaubnis zum Waffenbesitz erteilt“, erklärt der sechzehnjährige Matthias mit ruhiger Stimme vor den Innenpolitikern. Auch wenn das natürlich nichts mit den Motiven für den Amoklauf des Robert Steinhäuser zu tun hat, ohne die Pistole vom Typ „Glock 17“ (die ebenfalls mitgenommene Pumpgun „Mossberg 590“ blieb unbenutzt) hätte er nicht sechzehn Menschen töten können.
Es sind kluge Argumente, die die drei Freunde vorbringen. Im Jahr 2000 auf einer Klassenfahrt nach Berlin bedrohte Robert Steinhäuser den Biologielehrer Hans Lippe. Er stand vor ihm, formte die Finger zur Pistole und drückte ab. „Du bist tot“, sagte er. Nur ein dummer Scherz? Lippe erschrak und sorgte dafür, dass Steinhäuser einen offiziellen Verweis bekam. Hätte das Ordnungsamt eine Stellungnahme der Schule eingeholt, er hätte die Erlaubnis zum Waffenbesitz kaum erhalten. Die Schule wurde nicht gefragt. Am 26. April 2002 um 11.04 Uhr erschießt Robert Steinhäuser Hans Lippe im Biologiesaal aus nächster Entfernung.
Als im vorigen Jahr im April die Fernsehbilder aus Erfurt wie Schockwellen über das Land streichen, beginnt in Deutschland der Wahlkampf. Zur Trauerfeier kommt der ganze Staat. Bundespräsident, Kanzler, Abgeordnete landen mit Sondermaschinen aus Berlin auf dem Flughafen Erfurt. Kanzler Schröder und Kandidat Stoiber haben ihre Ehefrauen mitgebracht. Entsetzen zeichnet sich in ihre Gesichter und wird gleich darauf von Entschlossenheit verjagt. Beide fordern, das Waffenrecht so zu verschärfen, dass Feuerwaffen grundsätzlich erst Erwachsenen ab 25 Jahren zugänglich sind. Waffen in Privathaushalten aufzubewahren, soll verboten werden. Alles klingt sehr logisch. Wenn man eine Waffe sowieso nur auf dem Schießplatz benutzen darf, warum soll man sie dann nicht auch dort lagern?
Im Juni 2002 verabschiedet der Bundesrat das neue Waffengesetz. Die neuen Regelungen: Waffen mit Geschossen über 5,6 Millimeter sind erst ab 21 erlaubt, kleinere Geschosse weiterhin ab achtzehn. Die Waffenlobby hatte sich im Vermittlungsverfahren durchgesetzt.
„Wie kommt es, dass ein Neunzehnjähriger Schüler so leicht in den Besitz lebensbedrohlicher Waffen kommt? Warum wird die Schule nicht gefragt?“, will Thomas von den Mitgliedern des thüringischen Innenausschusses wissen. Da es nach wie vor keine bundesweite Regelung gibt, wollen die Schüler wenigstens mehr Sicherheit in ihrem Bundesland.
Es ist eine leise Atmosphäre im Raum 201. Ein Kamerateam filmt die Gesichter der drei Schüler. Die Antworten der Politiker sind langsam, die Worte routiniert, wohl gewählt. „Dass das Anliegen berechtigt ist, da sind wir uns alle einig … jedoch hat dieses Thema außerordentliche Konsequenzen … wir müssen sehr tiefgründig diskutieren … es ist auch ein datenschutzrechtliches Problem … es muss Rechtssicherheit geben … vielleicht eine neue Initiative in Richtung Bund …“
Nach einer Stunde ist alles vorbei. Sabine Pschorner, die die Seminararbeit als Lehrerin betreut, umarmt ihre Schüler. „Ich bin stolz auf euch“, sagt sie, und enttäuscht ist sie auch. Enttäuscht vom Politikergerede, das sie aus ihrer Zeit im Stadtrat kennt. „Das hat sich sehr nach Sankt-Nimmerleinstag angehört.“ Sie ist überrascht, wie wenig präsent vielen Menschen der Erfurter Amoklauf heute nur noch ist. Vor zwei Wochen war sie mit einer Klasse auf Studienfahrt in Berlin. Beim Besuch im Bundestag stellt sie sich als Gruppe vom Gutenberggymnasium vor. Ein Name, der nichts auslöst beim Mann vom Besucherdienst. Auch der Abgeordnete aus Thüringen verliert dazu kein Wort. „Da hab ich mich schon gewundert“, sagt Pschorner, die erst nach dem 26. April ans Gymnasium kam.
Am Abend treffen wir Matthias wieder. Der groß gewachsene Junge sieht verändert aus in seinem roten Anorak und der beigen Hose. „Wir können zur Schule fahren, klar“, sagt er und drückt an seiner Brille. „Letztes Jahr haben wir uns dort oft getroffen, einfach so, um zusammen zu sein. Ich war auch schon einmal drin, zusammen mit den Psychologen. Der Ort ist kein Problem.“
In der Dämmerung sieht das Schulgebäude noch düsterer und trutziger aus. Vor dem Hauptportal steht eine kleine Gruppe Jugendlicher im Scheinwerferlicht. Ein Kamerateam arbeitet noch an einer der vielen geplanten Dokumentationen zum Jahrestag. „Lass uns hintenrum gehen“, sagt Matthias und beginnt zu erzählen von seinem 26. April.
Es ist kurz vor der großen Pause. Zusammen mit zwei Freunden wollen sie gleich eine rauchen gehen. Vorher noch kurz auf die Toilette im ersten Stock. Dort hören sie zum ersten Mal dieses peitschende Geräusch. Sie schauen aus dem Fenster und sehen jede Menge Schüler auf dem Schulhof, obwohl es noch gar nicht geklingelt hat. Vor allem: Sie rennen. Auf einmal fährt ein Knall ganz nah in die Unsicherheit der Jungen. Holz splittert. Es stinkt. Emanuel, der neben Matthias steht, nimmt seinen Rucksack vom Rücken. Ein Projektil, abgefeuert aus einer von Steinhäusers Waffen, hat den Stoff zerrissen, den Malkasten darin in feinen Staub zerlegt.
„Ein paar Sekunden vorher stand ich noch an der Stelle, vielleicht ein bisschen weiter hinten …“ Matthias beendet den Satz nicht. „Wir haben uns auf den Boden gelegt und irgendwann hab ich meine Mutti angerufen.“ Diese Momente tanzen heute noch lebendig durch Matthias’ Kopf, fast jeden Tag. Auf dem Gang Geschrei, zwei Männer. Später werden sie erfahren, dass sie den Wortwechsel zwischen Robert Steinhäuser und dem Geschichtslehrer Rainer Heise hören. Die Jungen, die nun in der Toilette ausharren, wissen auch nicht, dass Steinhäuser von Heise im Raum neben ihnen eingeschlossen wurde. Auch den Schuss, mit dem Steinhäuser sich schließlich selbst tötet, will Matthias nicht gehört haben. Vielleicht ist es besser so. „Es hat dann noch ewig gedauert, bis sie uns rausgeholt haben, weil sie nicht sicher waren, ob es noch einen Zweiten gibt.“
Nach drei Stunden werden sie endlich von Polizisten befreit. Matthias erzählt in einem ruhigen, nüchternen Ton. Alles hört sich an diesem friedlich dämmrigen Aprilabend fern an, auch wenn wir am Ort des Geschehens sind. Aber will man eigentlich wissen, wie es wirklich war im Gutenberggymnasium an diesem Morgen? So richtig wirklich?
In Michael Moores Film „Bowling for Columbine“ kann man Aufnahmen der Überwachungskameras in der Columbine High School in Littleton sehen. Man sieht, wie Dylan Klebold und Eric Harris, die Attentäter von Littleton, mit ihren Waffen durch die Bibliothek, in der sich hunderte Schüler verstecken, toben und für eine Massenpanik sorgen. Die neuste deutsche Ausgabe des Reader’s Digest beschreibt detailliert blutig, wie Schüler stundenlang den Todeskampf des Physiklehrers Peter Wolff miterleben mussten, dem Steinhäuser mitten im Unterricht in die Brust schoss. Und es gehört nicht viel Geschick dazu, an Splattervideos zu gelangen.
Der Reiz solcher Dokumente liegt in ihrer Authentizität und Intimität. Nur das Echte verursacht den Kick im Gehirn der Unbeteiligten. „Ekelhaft und komisch“ findet Matthias, wenn selbst entfernte Bekannte der Eltern noch genau wissen wollen, wie es denn so war mitten im Schulmassaker.
Auf dem Parkplatz hinter der Schule kommt uns ein Junge – tief sitzende Hose, Basecap auf dem Kopf – entgegen. Ein Mitschüler von Matthias, der sich gerade vor der Schule interviewen ließ. Die beiden Jungen ziehen sich nur kurz zur Begrüßung an den Händen, laufen weiter. Es gibt wohl keine Schülerschaft an einer deutschen Schule, die sich so intensiv kennt wie die Jungen und Mädchen vom Gutenberggymnasium. Unbedingt zusammenbleiben, nicht auf verschiedene Schulen verteilt werden wollten sie. Auch wenn das für die meisten einen weiteren Weg zur Ausweichschule im Süden Erfurts bedeutet.
Hört man ihnen zu, fällt auf, dass sie fast nur in Hauptsätzen sprechen. Immer etwas leiser, der Abstand zwischen den Wörtern einen Bruchteil länger. Sie sind empfindsamer und verletzlicher. Als Matthias in seiner Klasse einen Fragebogen verteilt mit Fragen wie dieser: „Hast du schon einmal mit einer Schusswaffe geschossen?“, reagieren die Mitschüler reserviert. Im Unterricht spielt das Thema kaum noch eine Rolle, das wird in den Gesprächen mit den Psychologen „erledigt“, wie Matthias sagt. Die Gespräche seien gut, an die Entspannungsübungen glaubt er nicht.
„Die ersten Monate nach dem Ereignis kommen mir heute total weit weg vor. Ich kann mich kaum noch erinnern“, erzählt Thomas. Und Robert Steinhäuser? „Am Anfang fiel es schwer, seinen Namen auszusprechen“, sagt Niklas. Inzwischen geht das leichter. „Steinhäuser“ nennen sie ihn. „Steini“, wie früher, nennt den Amokläufer niemand mehr. Was ließ ihn so verzweifeln? War er schwul und konnte es niemandem sagen?
Das alles interessiert in Erfurt erstaunlicherweise wenig. Andere Dinge dafür umso mehr. Nicht ohne Grund sind die meisten Gutenbergschüler ebenfalls mit Gutenbergschülern befreundet. So traurig es ist, ein Jahr nach dem Amoklauf geht ein Riss durch Erfurt. Der beispiellose Zusammenhalt der Erfurter, der von Politikern nach der Tat gern als positiver Aspekt gelobt wurde, ist lang vorbei.
„Wir müssen uns schon mal anhören, unsere Schule bekommt keine Computer, weil ihr ein neues Dach bekommt“, erzählt eine Schülerin, die ihren Namen nicht schon wieder in der Zeitung lesen möchte. Zehn Millionen Euro wurden für den Umbau des Schulgebäudes aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt. Das reicht, um Neidgefühle zu erzeugen. Dabei ist es nicht das größte Schulprojekt in Erfurt. „Manche glauben, wir würden zu viele Vergünstigungen bekommen. Zum Beispiel, dass Boris Becker uns zum Tennis eingeladen hat“, erzählt Niklas und streicht sich durch die kurzen blonden Haare.
Im neuen Schulgebäude passiert es immer wieder, dass Schüler der Regelschule – das ist in Thüringen die kombinierte Haupt- und Realschule –, die eigentlich in dem Gebäude zu Hause ist, an der Klassentür klopfen und dann schnell wegrennen. Oder Türen laut zuwerfen. Gemeines Gift für verletzte Seelen. Das Normale kommt nur langsam wieder zurück.
„Nach den Sommerferien habe ich wieder angefangen, richtig zu lernen“, erzählt Matthias. Er will das Abitur unbedingt schaffen, danach in Eberswalde Forstwirtschaft studieren. Erfurt wird er auch dorthin mitnehmen. Die Sonderrolle, die sie sich selbst nie ausgesucht hätten, wieder loszuwerden, ist fast unmöglich und der Versuch Kräfte zehrend. Die Gutenbergschüler sind Engel mit geknickten, nicht gebrochenen Flügeln. Niemand ist so wie sie, und anscheinend müssen sie damit selbst zurechtkommen.
Matthias weiß das, und man kann ihm ansehen, dass es ihn jetzt, wo wir vor dem Haus seiner Eltern stehen, traurig macht. Er erzählt, wie er und Emanuel zum Jahresrückblick mit Günther Jauch eingeladen wurden. RTL lockte mit einem Luxushotel und Bahnfahrt erster Klasse. Matthias blieb zu Hause. „Ich hatte Angst, dass es zu sehr auf die Tränendrüsen geht“, sagt er. Emanuel fuhr und zeigte seinen von der Kugel zerfetzten Rucksack.
Früher, vor einem Jahr, waren sie einfach Jungs und Freunde, weil sie sich gut leiden konnten. Heute? Na ja. Matthias muss reingehen und sich hinlegen. Eigentlich ist er krank, fiebrig, wird wohl Grippe sein. So genau weiß man das ja nie.
HENNING KOBER, 21, lebt als freier Journalist und Autor in Berlin. Von Saskia, einer Gutenbergschülerin, lernte er das Wichtigste über Erfurt: „Unser H & M bekommt nur die C-Ware.“