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Archiv-Artikel

Nachholende Trauer

Laurent Chétouane hat mit sprachbesessener Regie Atiq Rahimis „Erde und Asche“ uraufgeführt

Laurent Chétouane ist niemand, der die Puppen tanzen lässt. Viel eher sind seine Figuren Ausgeburten abgelaufener Zeit, konzentrierten Innehaltens. 150 Minuten lässt der junge, in Frankreich geborene Regisseur seine Inszenierung in den Text von Erde und Asche eintauchen. Der perlende Erzählfluss des gleichnamigen Romans von Atiq Rahimi, Vorlage für die Uraufführung am vergangenen Freitag im Schauspielhaus, ist ideal für Chétouanes sprachbesessene Regie, die mit wenigen klaren Gesten auskommt. Einmal hinknien, einmal hinlegen, einmal aufstehen, einmal hinsetzen. Ein paar Zeitlupenschritte, gebrochen, von ehemaligem Stolz. Das ist alles.

150 Minuten spielt der Schauspieler Hans Diehl dieses bewegungsarme Korsett als Solist meisterhaft aus. Drei-, viermal darf er seine Stimme über den wohlartikulierten Grundduktus des stockenden Erzählens heben – abgewürgt nur von der Stille, von im Hals, in der Zeit stecken gebliebenen Gedanken.

Wie soll er, Dastagir, seinem Sohn Murad, der in einem Bergwerk arbeitet, vom Schicksal seines Heimatdorfes erzählen, wie sagen, dass Frau, Mutter, Bruder „in Flammen verschwunden“ sind, die eine russische Bombe entfachte. Lange wartet er, von Staub umhüllt, auf einen Lastwagen, der ihn mitnimmt, um den Wachposten zur Mine zu passieren.

Erde und Asche ist Trauer, Bewältigung ohne Zeitbezug, keine Allegorie auf Krieg und Opfertum. Wohin mit dem Kummer, dem erlebten Leid, wo warst du, als wir trauerten? Persönliche Fragen. Seit dem sowjetisch-afghanischen Krieg (1979–89), sagt Autor Rahimi, habe das Volk keine Zeit gehabt, um seine 10 Millionen Toten zu trauern. Er selbst, seit 1984 in Paris im Exil lebend, habe den Tod seines Vaters, der in diesem Krieg umkam, erst zwei Jahre später realisiert.

Trauer erfordert ein kommunizierendes Kollektiv, wenigstens einen Gesprächspartner. Ein Einzelner redet gegen die Wand: Selbst wenn Dastagir mit einem Kioskverkäufer oder dem Vorarbeiter spricht, antworten sie doch mit seiner Stimme! Symbol für diese unbebilderbare Trauer ist sein Enkel Yassin, Murads Sohn, der nichts hört, aber spricht, der glaubt, die Welt sei verstummt. Ihrer Kehlkopf abschnürenden Unerträglichkeit gibt Chétouane behutsam viel Raum und Hans Diehl eine Stimme, die sich aufs Eis wagt, so dass man als Zuschauer 150 Minuten mit auf der Bühne sitzt. Mit geschlossenen Augen, gebannt vom Text. Christian T. Schön