: Der Weizen in der Spreu
Kirchentag, ein Schmelztiegel des Streitens: Eine Liebeserklärung an die Volkskirche von DOROTHEE SÖLLE
Die, die sich sonst nicht zur Kenntnis nehmen, streiten miteinander. Die zu Hause keine Bibel aufschlagen, werden bei der Bibelarbeit und beim Hallelujasingen ertappt. Die, die sonst kirchliches Leben und die Geschicke der Welt fein auseinander halten, können der Politik nicht entfliehen.
Nur wenige Gruppen gibt es auf dem Kirchentag, die völlig unter sich bleiben und die im eigenen Sud schmoren. Hier aber wird aus ihrem Nebeneinander eine konflikthafte Gleichzeitigkeit der Frömmigkeitsformen, der Glaubensweisen und der politischen Auffassungen. Das nennen wir lebendig.
Die kirchlich Distanzierten nehmen an religiösen Veranstaltungen teil, die spiritualistisch Verengten stoßen auf die Themen Recht und Unrecht, die Funktionäre werden absichtslos beim Gebet – wenigstens für drei Tage.
Und nach den drei Tagen? Gehen alle zurück. Die Distanzierten vermutlich in die Distanz, die Kerngemeinde bleibt Kerngemeinde. Und doch, man bringt einige Lieder mit – dies nicht nur im wörtlichen Sinn. Ideen, liturgische Elemente, Projekte, Zweifel und Sehnsüchte. Der Kirchentag ist der Ort neuer, riskanter Wahrheiten, darum auch der Ort von Irrtümern und einiger Spreu.
Aber wo es nicht erlaubt und möglich ist, sich zu irren, da ist auch keine Wahrheit zu erwarten. Vieles erscheint auf den Kirchentagen zuerst, wird dort zum ersten Male gedacht und praktiziert. Wenn man sich an die Kirchentage der letzten dreißig Jahre erinnert, so staunt man, was sie in Gang gesetzt haben. Auf ihnen haben politische Ideen einen Platz gefunden, und die liturgische Landschaft hat sich durch sie verändert.
Viele Kirchentage waren Orte großer und leidenschaftlicher Streite. 1969 war es der Streit um die Befreiungstheologie, 1981 und 1983 waren es die Kirchentage der Friedensbewegung, 1991 ging es um den Golfkrieg, 1993 war das große Thema der Rassismus in Südafrika und das Verhalten der Kirchen dazu.
Konflikthaft ist der Kirchentag allein schon wegen der verschiedenen Herkunft der Teilnehmenden. Konflikthaft ist er auch in seiner Anlage. Trotz der vielen Theologen und Theologinnen ist er ein Ort der Laien. Die partizipatorischen Elemente sind stärker als bei anderen Gruppierungen und Erscheinungsformen der Kirche. Es ist nicht harmonistisch von oben geregelt, wer eingeladen wird, welche Themen auf Podien und in Arbeitsgruppen behandelt werden, wie die Gottesdienste gefeiert werden. Interessen und Optionen stoßen aufeinander. […]
Wenn man die Entwicklung der Kirchentage in den letzten Jahren betrachtet, stellt man fest, dass der Kirchentag ökumenischer und kulturoffener geworden ist. Und er ist frömmer geworden, die spirituellen Angebote haben sehr stark zugenommen. Evangelische Klöster stellen sich vor, Meditationen der verschiedensten Art und der verschiedensten Gruppen werden angeboten. […] Aber uns ist die neue Spiritualität aus einem anderen Grund wichtig: Die alte Front zwischen den politisch Wachen und den Frommen löst sich auf. Die Leute mit besonderer Aufmerksamkeit für den Frieden, die Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit merken, dass man nicht von selbst in seinen politischen Absichten ausdauernd ist und dass Wünsche und Visionen sich nicht von selbst halten. Man kann nicht aus dem Stand mutig und widerstandsfähig sein, man kann nicht langfristig gebildete Lebensträume haben, ohne diese Träume zu ernähren. Das haben wir gemerkt, und so haben Gottesdienste, Gebet und Meditation eine neue Bedeutung gewonnen. Herr Glaube und Frau Zweifel haben sich neu verheiratet.
Der Kirchentag ist mit den Jahren politischer geworden. Nicht nur in dem Sinn, dass Politiker gerne dort auftreten und einem auf Schritt und Tritt begegnen. Kein gesellschaftlich bedeutendes Thema ist ausgelassen, und diese Themen werden nicht mehr nur von den politisch Interessierten diskutiert. Es ist Mode geworden, auf Kirchentagen Gegenwartsthemen zu behandeln.
Es gibt ja auch gute Moden. Und so ist der Kirchentag ein großes linksliberales Bürgerrechtszentrum geworden. Ein Gedächtnisort für wichtige Themen. Themen müssen Plätze finden, wenn sie sich halten sollen. Natürlich kann man gelegentlich die Zufälligkeit von Themen beklagen oder ihre oberflächliche Behandlung. Aber es ist ein Ort da, an dem die wichtigsten Themen zu erwarten sind und geduldet werden.
Der Kirchentag ist ökumenischer geworden. Nicht nur die christlichen Kirchen sind miteinander im Gespräch. Die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen ist eine nicht mehr wegzudenkende Selbstverständlichkeit. Das Gespräch mit den Muslimen ist intensiv. […] Die ökumenische Öffnung sorgt auch immer wieder für Konflikte auf den Kirchentagen wie auf den Katholikentagen. Zum Dauerkonflikt zwischen den Amtskirchen und der großen christlichen Laienbewegung führt die Frage des gemeinsamen Abendmahls. In kaum einem Thema sind sich die Besucher der Kirchen- beziehungsweise Katholikentage so einig wie in der Frage des gemeinsamen Mahles. Die Bedenken der Kirchenleitungen versteht kaum noch ein Mensch.
Das gemeinsame Abendmahl ist ein Beispiel dafür, wie auf diesen großen Laientagen neue Wahrheiten erkannt werden und ans Tageslicht kommen. Was auf den Kirchentagen gedacht und praktiziert wurde, ist später im Alltag der Gemeinden nur noch schwer zu unterdrücken. Der Kirchentag ist kulturoffener geworden. Auf den alten Kirchentagen hatte man die erwarteten Lieder, vielleicht noch einige klassische Konzerte, mehr jedoch nicht. […]
Da wir, beide AutorInnen dieses Artikels, seit einigen Jahrzehnten auf Kirchentagen arbeiten und sie lieben, werden wir wohl nicht die objektivsten Beurteiler dieser Veranstaltung sein. Sie sind natürlich auch immer wieder verschieden in ihrer Qualität. Aber sie sind die lieblichen und rotzigen Töchter der alten Dame Kirche, und sie verhelfen ihr zu weiten Sprüngen, die sie sich selbst kaum noch zutraut.
Dieser Text von Dorothee Sölle und dem Erziehungswissenschaftler Fulbert Steffensky erschien am 9. Juni 2001 in der taz