: Türkei findet wirtschaftlich Anschluss
Bei Bundeskanzler Schröders Besuch in Istanbul präsentiert sich die türkische Kapitalfraktion aufgeräumt und mit hoffnungsfrohen Zukunftsperspektiven. Regierungschef Erdogan setzt auf Investitionen internationaler Konzerne
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Der Rahmen war feierlich. Rund fünfhundert deutsche und türkische Unternehmer – die Damen entschieden in der Unterzahl – warteten am Montagabend im Ballsaal des Hotels Kempinski, eines ehemaligen Sultanspalasts am Bosporus, gespannt darauf, was der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und sein türkischer Kollege Tayyip Erdogan ihnen zu sagen hatten.
Informationen mit etlichen Zahlen über die guten Aussichten im deutsch-türkischen Handel und ein verlockender Vortrag des Wirtschaftsministers Ali Babacan über den türkischen „Investitionsstandort mit Zukunft“ hatten die ohnehin frohen Erwartungen mächtig angeheizt. Und dann kamen sie. In einem Pulk von Bodyguards und Kameras reichten sich die beiden Regierungschefs wiederholt fototrächtig die Hände, bevor Schröder ans Podium eilte.
Sosehr der Kanzler in den letzten Wochen bei öffentlichen Auftritten gelitten hatte – hier war er in seinem Element. Statt über Zahlen plauderte er launisch über den Berlinale-Gewinner Fatih Akin als ein Beispiel für den kulturellen Reichtum des Zusammenlebens von Deutschen und Türken und beglückwünschte die versammelte türkische Kapitalfraktion zu der Dynamik, mit der sich das Land reformiere und modernisiere.
Tatsächlich hatte Wirtschaftsminister Babacan eine beeindruckende Bilanz präsentiert und eine Fortsetzung der Reformagenda angekündigt, die das Herz aller Unternehmer höher schlagen ließ. Demnach sind die türkischen Exporte zuletzt auf ein Volumen von rund 50 Milliarden US-Dollar jährlich angestiegen, 80 Prozent sind industrielle Produkte, von denen wiederum 60 Prozent in die EU und in die USA geliefert wurden. Sie könnten also mit den weltweit besten Produkten konkurrieren.
Schon jetzt produzieren einige internationale Konzerne in der Türkei und exportieren von hier aus in alle Welt. Erdogan möchte entschieden mehr davon, weil diese Konzerne qualifizierte Arbeitsplätze schaffen und – weil sie Zulieferer brauchen – die Wirtschaft insgesamt in Schwung bringen. „Von der Türkei aus“, schwärmte der Ministerpräsident, „kann man in knapp drei Flugstunden 51 Länder mit einer Bevölkerung von 1 Milliarde Menschen als potenzielle Konsumenten erreichen.“ Wenn die EU erst grünes Licht für Beitrittsverhandlungen gegeben habe, davon ging auch Schröder aus, wird der Standort die Investoren beflügeln und dem Land einen gewaltigen Schub geben.
Schon jetzt, so Erdogan, seien die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, ausländische Investoren inländischen Firmen völlig gleichzustellen. Die Bürokratie ist laut Babacan so weit entrümpelt, dass eine Firma an einem Tag gegründet werden kann.
Der deutsch-türkische Unternehmer Vural Öger, der Schröder auf der Reise begleitete, bestätigte am Rande der Veranstaltung, dass sich das Labyrinth bürokratischer Abläufe tatsächlich gelichtet hat. „Obwohl ich zunächst sehr skeptisch war, hat Erdogan mich überzeugt. Die Regierung hat gute Arbeit geleistet“, sagte er der taz. Andere sind nicht so begeistert. Peter Fouquet, deutscher Vizepräsident der Deutsch-Türkischen Handelskammer, hatte noch eine lange Liste von Wünschen. Darunter auch die Klagen über zu hohe Steuern und zu hohe Lohnabschlüsse, die den Investitionsstandort seiner Meinung nach gefährdeten.
Dass es auch noch andere Gründe gibt, die man bei Investitionen in der Türkei bedenken sollte, erlebte der Kanzler gestern Morgen bei der Einweihung des von der Essener Steag gebauten Kohlekraftwerks in Iskenderun. Ein ökologisches Forum protestierte heftig gegen den 1,5 Milliarden Dollar teuren Bau, mit dem einem landwirtschaftlich wertvollen Gebiet schwere Schäden zugefügt würden. „Warum“, fragt die Bürgerinitiative, „baut man in der Türkei ein Kohlekraftwerk, das mit Brennstoff aus Südafrika betrieben werden soll, statt ein modernes Gaskraftwerk zu errichten oder in erneuerbare Energie zu investieren?“ So erlebt Schröder auch die Konsequenzen der von ihm geforderten Demokratisierung: Eine funktionierende Zivilgesellschaft lässt sich kein Kohlekraftwerk mehr als letzten Hit westlicher Technologie verkaufen.