Die große literarische Freiheit

Bookcrossing entlässt das Buch aus der beengenden Regalhaltung. Die Auswilderung von Lektüre begeistert immer mehr Leser, aber auch Verlage und Autoren

Das Hauptmotiv der Aktivisten: Bücher an die Welt verschenkenTrotzdem: Die Ehrfurcht vor der Literatur wird nicht schwinden

Ein herrenloser Rilke-Band an der Bushaltestelle? Eine einsame Ausgabe von Florian Illies‘ Generation Golf im Parkhaus? Auch im Norden der Republik häufen sich die Fälle allein gelassener Schmöker. Das hat nichts mit zunehmender Vergesslichkeit in einer hektischer werdenden Welt zu tun, geschweige denn mit mangelnder Liebe zum geschriebenen Wort. Bookcrossing – so der Fachbegriff fürs öffentliche Auslegen von Büchern – wird von jenen, die es praktizieren, als Akt der Befreiung verstanden. Getreu dem Motto „Regalhaltung ist Literaturquälerei“ beteiligen sich in Deutschland derzeit 11.048 Menschen am öffentlichen Lektüretausch.

Ausdrücklich ausgeschlossen sind Zeitschriften, Kataloge und Telefonbücher: Die seien „zu schnell veraltet“, sagen Bookcrosser, und „zu wenig strapazierbar“. Gegen Wind und Wetter muss ja schon mancher Leineneinband geschützt werden. Die Buchbefreierin GirlfromIpanema rät via Internet, die Werke in Gefrierbeutel zu stecken und durch Aufbügeln eines Alustreifens wasserdicht zu versiegeln. Der Weg in die Freiheit ist nicht leicht.

Da liegen sie nun: Heinrich Mann, Jostein Gaarder und Konsalik, an 178 Plätzen allein in Hamburg, aber auch noch an über 150 Stellen in Niedersachsen, jedes mit einer Nummer versehen und „ausgewildert“. Der Finder kann anhand dieser Zahlen im Netz nachvollziehen, wer das Buch freigelassen hat – und wo es schon herumgekommen ist. 126 Bremerinnen und Bremer beteiligen sich derzeit regelmäßig an der literarischen Schnitzeljagd, die im April 2001 durch den Amerikaner Ron Hornbaker initiiert wurde. In Hamburg sind es bereits 605 Jäger und Sammler. Sie alle tauschen sich auf der Seite www.bookcrossing.de darüber aus, wo wann welches Buch freigelassen wurde. Etwa John Shirleys Es werde Licht, das Anfang Februar in der Regionalbahn Vegesack-Bremen hinterlegt wurde. Sein aktueller Status: „travelling“. Gerhard Waldherrs Elvis ist tot hat die Hamburger Bookcrosserin Miss Golightly einem „sympathischen jungen Mann“ übergeben, der vor „Rosi‘s Bar“ in St. Pauli stand.

Marc Costellos Agentenroman Paranoia taucht in den aktuellen Listen Norddeutschlands nicht auf. Dabei hatte der Münchner Goldmann-Verlag die Neuerscheinung bundesweit ganze 1.000 Mal öffentlich ausgelegt. Eine einmalige Aktion, wie Pressesprecherin Claudia Hanssen betont. „Wir werden jetzt nicht das gesamte Programm so promoten. In diesem Fall aber bot es sich auch inhaltlich an.“ Eine Gefährdung des Buchhandels sieht sie nicht: „Ich sehe Bookcrossing eher als Beitrag zum Hemmschwellenabbau“, so Hanssen. „Wer ein Buch in der Straßenbahn findet, blättert vielleicht auch darin, obwohl er nie in einen Buchladen gehen würde.“

Etwas „an die Welt zu verschenken“ sieht Maren Winter als wichtigsten Antrieb für Bookcrossing. Im Grunde, so die 1961 in Lübeck geborene Autorin, brauche man nicht einmal die Registrierung auf einer Website: „Das befriedigt höchstens die eigene Neugierde.“ Bookcrossern, für die der Blick ins Netz zum wichtigsten Tagesereignis werde, fühle sie sich nicht zugehörig. Auch sie sieht keine Gefahr, dass die Ehrfurcht vor der Literatur auf Parkbänken zurückbleiben könnte: „Bewerten kann man ohnehin nur den Inhalt, und zwar erst nach der Lektüre. Der Rest ist Druckerschwärze und Papier.“

Christoph Kutzer

Kontakt: www.bookcrossing.de