: „Die Erosion des Regimes wird sich beschleunigen“, sagt Navid Kermani
Nach ihrem Wahlsieg werden die Konservativen im Iran versuchen, ein ziviles Gesicht an den Tag zu legen
taz: Herr Kermani, die Konservativen haben die Parlamentswahlen gewonnen. Ist die Reform des politischen Systems des Iran damit gescheitert?
Navid Kermani: Innerhalb der Institutionen wird der Reformprozess gestoppt, die Reformer werden herausgedrängt. Das heißt, dass das Regime nun keinen inneren Widersacher mehr hat. Andererseits ist aber auch die Basis des bestehenden Regimes kleiner geworden. Ich erwarte, dass sich diese Erosion durch das Wahlergebnis eher beschleunigt.
Wie werden sich die Konservativen nun, nach ihrem Wahlsieg, verhalten?
Es wird wohl keine spektakulären Hexenjagden geben. Je härter die Maßnahmen sind, zu denen die Konservativen greifen, desto mehr riskieren sie. Die Situation könnte eskalieren. Daher dürfte sich eine pragmatische Strömung durchsetzen, die sich auf die Wirtschaft konzentriert. Gerade unter den etwas jüngeren Konservativen gibt es nur noch wenige, die nicht die Notwendigkeit tief greifender Veränderungen sehen. Allerdings wollen sie die Veränderungen so steuern, dass sie am Ende nicht ohne ihre Macht dastehen.
Die Konservativen halten mit dem Wächterrat aber immer noch die Zügel in der Hand. Wie werden sie das nutzen?
Die Konservativen dürften jetzt versuchen, ein ziviles Gesicht an den Tag zu legen. Faktisch haben sie aber gezeigt, dass im Iran nackte Diktatur herrscht. Nicht die Diktatur einer Person: Religionsführer Chamenei ist nicht der alleinige Machthaber. Aber praktisch ist der Staat in der Hand einer Clique, die eng verflochten ist mit der halbstaatlichen Wirtschaft.
Und diese Clique ist auf keinen Fall reformfähig?
Die ist sicher nicht reformfähig. Zumindest die Älteren unter den Konservativen gehen schon auf die siebzig zu. Diese Leute haben gesehen, was in der Sowjetunion passiert ist. Sie haben daraus gelernt und sagen: Es darf bei uns keinen Gorbatschow geben. Darum haben sie die Reißleine gezogen.
Warum hat der reformistische Präsident Chatami nachgegeben, statt den Konflikt mit dem Wächterrat auf die Spitze zu treiben?
Das weiß ich nicht. Aber damit hat er sich als Führer der Reformbewegung, deren Symbolfigur er einmal war, diskreditiert.
Hätte er abtreten müssen?
Das hätten die meisten Menschen von ihm erwartet. Es gibt natürlich auch die Ansicht, dass dann alles nur noch schlimmer wird. Aber dieser Ansicht bin ich nicht und sind auch die meisten Menschen im Iran nicht. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass die Konservativen jetzt, wo sie wieder die alleinige Macht besitzen, vieles von dem umsetzen werden, was die Reformer eigentlich wollten.
Zum Beispiel?
Sie würden gern das Verhältnis zu Amerika verbessern. Ich glaube auch, dass sie prinzipiell bereit wären, sich notfalls mit Israel zu verständigen und sich aus dem Nahostkonflikt rauszuhalten, sofern der Westen dafür ihre Herrschaft akzeptiert. Der Pragmatismus dieser Leute ist überhaupt nicht zu überschätzen. Der ideologische Kampf ist vorbei, jetzt geht es nur noch um die Macht.
Das betrifft jetzt die Außenpolitik. Aber innenpolitisch? Der Alltag im Iran ist in den letzten Jahren spürbar liberaler geworden. Werden die Konservativen diese Fluchten ins Private weiter zulassen?
Das haben die pragmatischen Konservativen sicher im Sinn. Die Frage ist nur, ob sie damit durchkommen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist sehr, sehr groß. Dass sie sich dauerhaft kanalisieren lässt, indem man private Freiräume belässt, wage ich zu bezweifeln. Dafür sind die sozialen Probleme einfach zu groß: Die Zahl der Drogensüchtigen hat dramatische Höhen angenommen wie auch die Rate der Akademiker, die das Land verlassen. Diese Dinge werde sich verschärfen, denn die Leute haben resigniert und sind zutiefst frustriert.
Wie werden sich die Reformer verhalten, jetzt, wo sie nicht mehr im Parlament sind?
Ein großer Teil wird sich radikalisieren. Damit wird die Grenze aufgehoben zwischen der Reformern innerhalb des Regimes und der säkularen bürgerlichen Opposition außerhalb. Das heißt, die außerparlamentarische Opposition reicht dann auch in Bereiche hinein, die ihrer Biografie nach eigentlich zum Regime gehören. Man darf nicht vergessen: Ein großer Teil der heutigen Reformer gehörte zu den Vertrauten von Khomeini.
Aber wo kann sich diese Bewegung denn nun äußern?
Sie hat natürlich das Parlament als Forum verloren. Aber sie wird sich in den kommenden Jahren neue Führer suchen und neue Wege, um sich zu entfalten. Diese Bewegung ist eine Hydra.
Aber oppositionelle Zeitungen werden ständig verboten …
Dafür werden auch ständig neue gegründet. Das Bewusstsein der Bevölkerung ist sehr ausgeprägt, und der Informationsfluss – auch aus dem Ausland – ist so breit, dass man ihn durch einzelne Verbote nicht mehr stoppen kann.
Wenn man über den Wandel im Iran spricht, redet man ja über zwei Bewegungen. Zum einen gibt es die Reformer, die im weitesten Sinne zum System gehören: die Parlamentsabgeordneten, die Intellektuellen, die Zeitungen, die Theologen Und dann gibt es einen tief greifenden Umbruch in der Gesellschaft, der die jungen Leute, die Frauen und die Studenten umfasst, und der sich nicht immer politisch äußern muss. Die Frage ist, ob die Reformer noch die Kraft haben, die Speerspitze dieser Bewegung zu bilden. Sie mögen scheitern – aber der gesellschaftliche Umbruch, das säkularisierte Bewusstsein: das ist nicht aufzuhalten.
INTERVIEW: DANIEL BAX