„Wir fühlen uns wie Versuchskaninchen“

Lijon Eknilang wurde 1954 Opfer des Wasserstoffbombentests „Bravo“. Niemand hatte sie gewarnt. Ihre Heimat ist heute unbewohnbar

taz: Wie haben Sie den 1. März 1954 erlebt, der zufällig auch Ihr achter Geburtstag war?

Lijon Eknilang: Ich war mit meiner Großmutter, ihrem Cousin und dessen Sohn auf dem unbewohnten Ailinginae-Atoll, etwa eine halbe Stunde per Schnellboot südöstlich von Bikini. Wir wollten Kokosnüsse ernten und hatten dort auch übernachtet. Morgens bin plötzlich von einem sehr grellen Licht geweckt worden. Das machte mir Angst. Ich lief aus der Hütte nach draußen, wo sich Großmutter mit ihrem Cousin stritt. Sie dachte, die Hütte würde abbrennen. Erst später merkten wir, dass es kein Feuer war. Im Westen über dem Bikini-Atoll stand eine sehr helle Sonne, dann gab es diese fürchterliche Explosion. Die Erde bebte, starker Wind kam auf, und am Himmel sah ich diese pilzartige Wolke. Großmutter sagte, wir müssen uns verstecken, ein neuer Weltkrieg hat angefangen. Wir haben geweint.

Ihre Familie war nicht gewarnt oder über die Atomtests informiert worden?

Nein, wir wussten von nichts. Wir waren zu viert auf dieser Insel und überlegten, wo wir uns verstecken sollten. Eine Stunde später kamen Leute vorbeigefahren und nahmen uns auf eine andere Insel mit, da waren wir dann vierzehn. Wir hatte großen Durst, aber unser Trinkwasser verfärbte sich bereits. Unsere Augen brannten. Wir sind mit dem Boot dann auf eine Insel gefahren, wo noch andere Leute waren. Während wir gegessen haben, wurde unsere Nahrung mit Staub bedeckt. Wir hielten das erst für eine Art Seifenpulver. Unsere Augen brannten immer stärker, wir bekamen Kopfschmerzen und fühlten uns als hätten wir einen starkem Sonnenbrand. Uns war elend und wir konnten kaum noch gehen. Am Abend waren wir alle krank und am nächsten Tag sogar zu schwach zum Essen. Einige hatten Fieber. Und keiner wusste, was los war.

Wann und wie kam Hilfe?

Am Nachmittag des 2. März, also gut eineinhalb Tage nach der Atomexplosion, kam ein Schiff der US-Navy. Uns wurde befohlen, sofort an Bord zu kommen. Zuerst versteckten wir uns aus Angst, man würde uns töten. Bevor wir schließlich an Bord gingen, wurden wir mit Wasser abgespritzt. Die Kleider mussten wir zurücklassen. Am Folgetag erreichte das Schiff mit den 82 Evakuierten, quasi meiner gesamten Großfamilie, die US-Basis auf dem Kwajalein-Atoll. Dort musste wir alle Urin abgeben, der dann aber zusammengeschüttet wurde. Uns ging es sehr schlecht, die Haare fielen uns aus. Wir bekamen kaum Medizin, und niemand durfte uns besuchen. Drei Monate blieben wir dort, dann wurden wir nach Majuro gebracht. Erst drei Jahre später, 1957, kehrten wir nach Rongelap zurück.

Wie entwickelte sich Ihre Gesundheit und die der anderen Evakuierten?

Wissenschaftler hatten uns versichert, die Rückkehr sei ungefährlich. Doch in Rongelap vertrugen wir unsere Nahrung nicht mehr und litten unter Magenschmerzen und Übelkeit. Später bekamen wir Tumore, Schilddrüsen-, Leber- und Magenkrebs oder Leukämie. Unsere Krankenakten blieben aber unter Verschluss. Die meisten von uns mussten an der Schilddrüse operiert werden. 90 Prozent der Frauen in Rongelap hatten Fehlgeburten, auch Babys mit starken Missbildungen, die nicht lange lebten. Auch ich blieb nach sieben Fehlgeburten kinderlos. Japanische Ärzte haben mir erklärt, ich sollte nicht weinen, da könne ich nichts machen. Aber wie soll ich da nicht weinen? Mehrere meiner Verwandten sind inzwischen an Krebs gestorben. Ich leide unter Augen- und Nierenproblemen, 1981 wurde ich an der Schilddrüse operiert. Ich hatte noch Glück, weil die Ärzte meine Stimme retten konnten. Ich bin Chorsängerin. Andere Frauen, die vor mir operiert wurden, konnten nie mehr singen. 1985 haben wir Rongelap wieder verlassen. Wir fühlen uns wie Versuchskaninchen.

Wurden Sie für Ihr Leid entschädigt?

In den 60er- und 80er-Jahren habe ich insgesamt 35.000 US-Dollar bekommen, die ich für die Schilddrüsenoperation brauchte. Davon blieb nichts übrig. Seit ein paar Jahren bekomme ich aus einem Fonds 700 Dollar pro Quartal. Aber meine Familie besaß die drei Atolle Rongelap, Rongerik und Ailinginae. Da kann heute niemand mehr leben.

Interview: SVEN HANSEN