grottian und der 1. mai : Ein Lichtstrahl ins Dunkel
Der Politologe Peter Grottian ist immer für eine Überraschung gut – selbst wenn es um die Krawalle am 1. Mai geht und im vergangenen Jahr sein Konzept, den Tag der Arbeit zu repolitisieren, gescheitert ist. Jetzt verlangt der Wissenschaftler der Freien Universität, die in diesem Jahr Festgenommenen – unabhängig von der Polizei – zu interviewen und sie nach ihren Motiven zu befragen. Eine durchaus bemerkenswerte Idee.
Kommentar von RICHARD ROTHER
Denn bisher weiß man über die Motive derer, die am 1. Mai in Kreuzberg zu Stein, Flasche oder Bierbüchse greifen, relativ wenig. Ist es Frust über mangelnde Chancen in der Schule, der Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt, oder sind es Just-for-fun-Aktionen? Äußert sich hier radikaler politischer Protest, oder handelt es sich um eine andere Form von Macho-Hooliganism? Lassen die ausländischen Kiez-Kids einfach einmal die Sau raus, oder wollen sie auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam machen? Und was bedeuten „Allah-Allah“-Rufe türkisch-arabischer Gangs am 1. Mai – Protest, Provokation oder etwa Programm?
Dass Polizisten bei ihren Verhören kaum ehrliche Antworten erwarten können, dürfte klar sein; die Verhafteten könnten sich selbst belasten. Insofern könnte die Idee Grottians dazu beitragen, Licht ins Dunkel der Mainächte zu bringen. Zudem macht Grottians Vorschlag, diejenigen, über die sich ganz Kreuzberg und die halbe Stadt den Kopf zerbricht, zu handelnden Subjekten, nimmt sie zunächst einmal ernst – mit offenem Ergebnis.
Damit es zu einem Erkenntnisgewinn für alle kommen kann, müsste allerdings gewährleistet sein, dass die Interviews freiwillig und anonym stattfinden. Denn nicht jeder, der in Kreuzberg in die Fänge der Polizei gerät, muss unbedingt automatisch ein Straftäter sein.