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Archiv-Artikel

Beim Khadi von Maikunkele

AUS MAIKUNKELE HAKEEM JIMO

Die Strafe folgt auf dem Fuße. Der Dieb braucht nur aus der Tür des Gerichtssaals zu treten, um das Urteil am eigenen Leib zu spüren: zwölf Hiebe. Der 16-jährige Straftäter hatte eine Schubkarre geklaut. Kurzer Prozess in doppelter Hinsicht. Morgens wurde der Fall vorgetragen, schon am Nachmittag hat der Richter geurteilt. Der Dieb muss außerdem eine Entschädigung von umgerechnet knapp 20 Euro für die Karre zahlen und sechs Euro Strafgeld. Mit dem Geld kann er sich eine Woche Zeit lassen. Die zwölf Hiebe stehen sofort an. Scharia-Gerichte arbeiten schnell.

„Mit mehr als zwölf Hieben sühnen wir Scharia-Richter in diesem Teil Nigerias keine Straftaten – entweder sechs oder zwölf Hiebe“, sagt Richter Ahmed Adamu. Frauen werden nicht geschlagen. Auch Händeabhacken wegen Diebstahls oder gar Steinigen wegen Unzucht gibt es im Bundesstaat Niger nicht. Und trotzdem gehört dieses Bundesland zu den so genannten Scharia-Staaten der föderalen Republik Nigeria. So werden ein Dutzend von insgesamt 36 Provinzen genannt, in denen die Scharia vor vier Jahren eine Renaissance erlebte.

Die Schläge gibt es auf den Hintern mit dem etwa einen Meter langen Riemen, der im Büro des Richters hängt. „Koboko heißt der Riemen. Aus der Penishaut eines Rinds gefertigt“, sagt der Gerichtshelfer. Sein Kollege lacht und sagt, dass man auch andere Tierhaut nehmen könne.

Bevor der Kokobo seiner schmerzhaften Bestimmung nachkommen kann, muss sich der Verurteilte mit dem Bauch auf eine Bank legen. Es ist die Bank, auf der zuvor das Publikum im Gerichtssaal saß. Nun steht sie auf dem Vorplatz und hat sich vom Zeugen zum Helfer gewandelt. Neben der Bank hat sich bereits der Gerichtshelfer postiert und wartet auf das Zeichen des Richters.

Der Weise des Ortes

Die Menschen aus dem Ort nennen Richter Ahmed Adamu nur den „Khadi“ – so das arabische Wort für Richter. Khadi Ahmed Adamu ist eine Autorität und so etwas wie der Weise des Ortes. Als reiner Scharia-Richter steht er dem „Upper Sharia Court“ von Maikunkele vor. Der Ort liegt rund 10 Kilometer entfernt von Minna, der Hauptstadt des Bundeslandes im Nordwesten Nigerias. In der Gemeinde mit den umliegenden Dörfern leben über zehntausend Menschen, aber es gibt nur dieses eine Scharia-Gericht. Drei Jahre erst urteilt es allein im Sinne der islamischen Rechtsprechung.

Bei den ersten drei Hieben gibt sich der Übeltäter noch beherrscht. Er beißt die Zähne zusammen. Dann hält es ihn nicht mehr. Er reißt den rechten Arm hoch und versucht den Gerichtshelfer vom Schlagen abzuhalten – und wenn er nur weniger ausholen könnte. Aber der Vollstrecker findet leicht eine freie Bahn auf die dünne Stoffhose. Bei Schlag acht kommt nur noch ein jammerndes Flehen des Jungen, sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Die restlichen Hiebe gehen irgendwie vorbei.

Eine Frage der Ehre

Der 16-jährige Schubkarrendieb hatte die Wahl. Er hätte seinen Fall nicht zwangsläufig vor einem Scharia-Gericht verhandeln lassen müssen. Nur hier gibt es Hiebe auf den Hosenboden. Warum hat er trotzdem einen Scharia-Prozess akzeptiert? Um von der islamischen Gemeinschaft wieder voll akzeptiert zu werden. Es scheint mehr als ehrenrührig, sich als Muslim nicht der Scharia zu stellen. Doch es gibt auch andere Gründe, normale Gerichte zu meiden.

Die allgemeine nigerianische Justiz leidet an vielen Macken: Prozesse dauern oft Monate – mit Geld lässt sich das Verfahren beschleunigen oder hinauszögern, je nach Interesse. Wie vor allen anderen nigerianischen Institutionen hat die Korruption auch vor der Justiz nicht Halt gemacht. Scharia-Gerichte gelten als noch nicht so anfällig für Bestechung. Auch kurzzeitige Gefängnisstrafen, an normalen Gerichten weitaus häufiger verhängt, können in Nigeria unberechenbar sein. Denn die Verurteilten sind den Wärtern ausgeliefert. Aus Zeitgründen bevorzugen mitunter sogar Christen ein Scharia-Gericht, wenn sie Streit mit einem Muslimen haben.

Das Scharia-Gericht in Maikunkele besteht aus drei Räumen, die zusammen nicht größer sind als ein Wochenendhaus. Das Gebäude ist weiß getüncht mit grünen Fenster- und Türrahmen. Das Einzige, was islamisch wirkt, sind die Plastikteekannen, die für die Waschungen vor dem Beten gebraucht werden. Ein großes Betonfundament auf dem Vorplatz dient als Gebetsstätte.

Im linken Raum des Scharia-Hauses haben die Gerichtshelfer ihr Büro. Hier nehmen sie Anträge entgegen und überprüfen Dokumente. An der Wand lehnt ein windschiefes Regal, vergilbte Akten stapeln sich in den Fächern. Strom setzt hier nur den Deckenventilator in Betrieb und, wenn es dunkel wird, das Licht. Computer oder ein Telefon gibt es nicht. Nicht mal eine Schreibmaschine. Das Richterbüro wirkt ein wenig gemütlicher. Es gibt einen Teppich und eine Sitzgarnitur, auf der der Richter Besucher platziert. In seinem Zimmer müssen sich alle die Schuhe ausziehen.

Prozesse beginnen in allen Scharia-Gerichten nicht vor Mittag. Dann erst kommt der Richter. Durch eine schmale Tür kann er direkt aus seinem Büro in den Gerichtssaal schreiten. Auch der ist nur spärlich möbliert – wackelige Holzbänke, abgesplitterte Tische, und ein abgebrochenes Waschbecken verstaubt in einer dunklen Ecke.

Der Khadi Ahmed Adamu, im typisch langen Kaftangewand und cremefarbener Kappe, nimmt Platz am Richterpult. Hinter ihm hängt eine Ledertasche an der Wand. Jeder hier weiß, dass darin der Koran liegt. Viele sehen der Wahrheit dadurch einen großen Dienst erwiesen. Denn vor dem Koran haben Muslime deutlich größere Skrupel, die Unwahrheit zu sagen, als vor dem allgemeinen Gesetz. Sagt auch Richter Adamu. Andererseits führt genau dieser Umstand dazu, dass Muslime, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen, den Scharia-Prozess eher meiden. Weil sie dort schnell entlarvt werden. Weil sie sich im Falle einer Verurteilung nicht herausreden können und alle Forderungen obendrein auf einen Schlag begleichen müssen.

Durchschnittlich verhandelt ein Scharia-Gericht vier oder fünf Fälle täglich – in Stoßzeiten können es aber auch über ein Dutzend werden. Es scheint ein ruhiger Tag zu werden, nur noch zwei Prozesse stehen an. Eine junge Frau will sich von ihrem Mann scheiden lassen. Es ist der zweite Gerichtstermin, der erste war vor zwei Wochen. Der Richter hatte die Eheleute aufgefordert, sich diesen Schritt noch einmal zu überlegen und einen Neuanfang zu versuchen. Aber die Frau sagt auch heute, es ginge nicht mehr. „Es gibt keine Liebe mehr“, sagt sie, und die Anwesenden im Gerichtssaal nehmen es schweigend hin.

Keine 15 Minuten

Eine Traube von Leuten hat sich vor den Fenstern versammelt. Innen sitzen etwa 40 Leute. Männer auf der rechten Seite, Frauen auf der linken. Ein Drittel der Anwesenden gehört zum Gericht. Sie protokollieren, übersetzen gegebenenfalls aus den Lokalsprachen ins Englische. Die Sitzungen sind öffentlich und gut besucht. Lauschen von Schicksalsgeschichten lässt die Zeit schneller vergehen.

Und erst bei diesem Tempo. Der Richter erklärt die Ehe kurzerhand für geschieden. Der Gatte hat kein Wort gesagt. Er wird den Brautpreis zurückbekommen. Alles wird säuberlich in das Prozessbuch geschrieben. Das war’s. Eine ganz normale Scheidung. Kein Aufruhr, kein Gezeter, keine 15 Minuten.

Maikunkele liegt eben nicht in einem der Scharia-Hardliner-Bundesländer Zamfara, Katsina oder Sokoto, wo Richter, die alle Welt aufschreckende Steinigungsurteile gegen Frauen fällen. In der Provinz Niger entzündet sich auch keine Debatte an der Frage, ob Frauen in denselben Taxis sitzen dürfen wie die Männer. Auch einen Bart zu tragen bringt hier wenig Extraprestige. Und so legt die hiesige Landesregierung weniger religiösen Eifer an den Tag, obwohl sie von Muslimen dominiert wird – wenngleich Schilder entlang der Hauptstraßen mit frommen Sprüchen zu mehr Moral ermahnen: „Alles geschieht nach dem Willen Allahs“.

In einem Punkt ist man aber auch hier sehr streng: Auf Alkohol liegt ein Bann. Ungestrafter Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit ist nur an drei Orten möglich – alle unter Regie des Bundes: im Militärcamp, bei den Zollbeamten und in der Polizeikantine. Das führt zu dem absurden Phänomen, dass Autofahrer auf einen Schluck die Polizeistation besuchen.

Khadi Ahmed Adamu hat inzwischen den letzten Fall des Tages aufgerufen. Ein Vater weigert sich zu erlauben, dass sein Sohn die Tochter der Antragstellerin heiratet. Die Mutter der verhinderten Braut sagt, dass der junge Mann seit langem ein Verhältnis mit ihrer Tochter habe. Und das sei sogar dann weitergegangen, nachdem die Tochter einen anderen geheiratet hat, was ihrer Meinung nach dazu führte, dass die Ehe am Ende auseinander brach. Die Kinder der beiden sind nicht anwesend. Der Vater argumentiert, dass sein Sohn noch nicht einmal eine ordentliche Arbeit habe, um die Frau versorgen zu können.

Khadi Adamu will sich darauf nicht einlassen. Er schaut streng und fragt dann, ob es in der Scharia irgendwo eine Passage gebe, die besagt, dass eine muslimische Frau und ein muslimischer Mann nicht heiraten dürfen. Erste Anzeichen von Heiterkeit im Publikum. Was würde wohl passieren, wenn dieses Verhältnis so weiterginge, fragt Adamu. Dann wird sein Blick etwas milder, der Richter wird zum Vermittler und sagt darum zu dem Vater: „Ich bitte dich, ohne Wenn und Aber, der Ehe deinen Segen zu erteilen.“ Das Wort „Allah“ fällt einige Male, und am Ende willigt der Vater ein. In Maikunkele wird es bald eine Hochzeit geben.