: berliner szenen Mit fremden Augen
Der kleine Freund
Die letzten vier Jahre hatte er in London gelebt und war in Berlin noch nicht ganz heimisch geworden. Vieles schien ihm fremd. Meist trug er einen blauen Anorak und eine olivgrünweiße Wollmütze, die ihn etwas rastafarihaft und globalisierungskritisch aussehen ließ. Er sprach kaum Deutsch und weil er so klein war, musste ich mich oft zu ihm herunterbeugen.
Gewöhnlich holte ich ihn am frühen Nachmittag bei seinem Laden in Mitte ab und dann gingen wir spazieren. Wahrscheinlich sahen wir komisch aus, wenn wir hintereinander auf einem Bordstein balancierten. Er war komisch und wenn es schneite, stellte er sich in eine Ecke und ich sollte ihn mit Schneebällen bewerfen. Manchmal standen wir auch nur einfach Stunden vor den Aquarien in der Lebensmittelabteilung von „La Fayette“.
Vielleicht war er impulsneurotisch. Manchmal kletterte er jedenfalls plötzlich auf ein fast drei Meter hohes eisernes Tor auf unserem Weg und rief lachend von oben „I am the tallest!“. Und immer wieder fragte er „why“. Das war so sein Ding. Wozu ist dies, wozu ist das. Bis ins Bodenlose, definitiv nicht mehr zu Beantwortende gingen seine Fragen. Diese Röhren, die aus den meisten Geschäftshäusern in der Friedrichstraße ragten, hatten seine Aufmerksamkeit an einem Nachmittag besonders gefesselt, vielleicht auch, weil sie in seiner Augenhöhe hingen. An diese Röhren werden die Schläuche der Feuerwehrautos angeschlossen, wenn’s hier mal brennt, erklärte ich ihm in einem Kauderwelsch aus „Schlauch“ und „Firebrigade“ und kam mir dabei blöd vor.
Unsere Nachmittage endeten gewöhnlich in seiner Wohnung. Während ich mir einen Tee machte, backte er Kuchen aus Sand und Spülmittel.
DETLEF KUHLBRODT