: Chronist von Macht, Geist und Wahn
Der Historiker Götz Aly wird mit dem renommierten Marion-Samuel-Preis der „Stiftung Erinnerung“ ausgezeichnet
Heute erhält Götz Aly, Historiker und ehemaliger Redakteur von taz und Berliner Zeitung, den Marion-Samuel-Preis der „Stiftung Erinnerung“. Die 1996 von Walther und Ingrid Seinsch errichtete Stiftung zeichnet Institutionen und Personen für ihre Verdienste im intellektuellen und politischen Kampf gegen das Vergessen, Verdrängen und Relativieren von Naziverbrechen aus.
Nach dem großen Historiker Raul Hilberg ist der 1947 geborene Aly nun der zweite Preisträger. Und wie jener gehört auch Aly zu den akademischen Außenseitern. Zusammen mit Susanne Heim und Karl-Heinz Roth bildet er seit den Achtzigerjahren eine historische Forschungsgruppe, die sich privat finanziert und außerhalb des universitären Forschungsbetriebs mit bahnbrechenden Studien zum Regime des Nationalsozialismus auf sich aufmerksam machte.
So entstanden die „Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik“, in denen die ökonomischen, organisatorischen, politischen und ideologischen Implikationen der NS-Vernichtungspolitik untersucht wurden. So porträtierte Aly zusammen mit Susanne Heim den Ökonomen Helmut Meinhold, der sich vor 1945 für die „Umsiedelung“ und die „Ausschaltung der Juden“ im Osten stark machte – und danach zum wichtigsten sozialpolitischen Berater der Bundesregierung wurde. Von 1959 bis 1985 saß er dem Sozialbeirat vor.
1991 schreckten Aly und Susanne Heim die Geschichtswissenschaftler auf mit ihrem Buch über den Beitrag namhafter deutscher Historiker zur Planung der „Entjudung Restpolens“ (Theodor Schieder) oder zur „Entjudung“ polnischer Städte“ (Werner Conze). Es dauerte sieben Jahre, bis sich die Zunft mit der Vergangenheit ihrer prominenten Kollegen beschäftigte und Aly ein Forum bot, seine Thesen vorzutragen.
Während sich viele Historiker bei der Darstellung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hinter obskurantistischen Formeln wie dem „schwarzen Loch des Erklärens“ oder dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) verbarrikadierten, plädierte Aly dafür, die ökonomischen, soziologischen und sozialpolitischen Begründungen zu untersuchen, mit denen willige und rundum ins System eingebettete Historiker unter der Parole „kämpfende Wissenschaft“ die vermeintliche Notwendigkeit, die Bevölkerung Osteuropas zu verringern, herbeischrieben.
Die NS-Vernichtungspolitik beruhte weniger auf irrationalen Ressentiments als auf einer „gnadenlos instrumentalisierten Vernunft“ (Aly). Das gilt für die Vernichtung der Juden ebenso wie für die Kriegsführung, in der das Aushungern von Millionen sowjetischer Zivilisten und Soldaten zum strategischen Kalkül gehörte.
Nachdrücklich widmete sich Aly der Kontinuität zahlreicher Karrieren von Zuarbeitern der Macht aus Wissenschaft und Verwaltung. In seinem Buch „Macht – Geist – Wahn“ (2000) hat er einige dieser Karrieren nachgezeichnet, die nach 1945 bruchlos weitergingen und nie Gegenstand juristischer Prozesse oder auch nur wissenschaftlicher Auseinandersetzung wurden. Zuletzt veröffentliche der Publizist und Historiker unter dem Titel „Rasse und Klasse“ höchst kundige Zeitungsartikel und Glossen, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit befassen. RUDOLF WALTHER