piwik no script img

Archiv-Artikel

Weltweiter Kursus

Knackpunkt Industrie: Woraus resultiert das Ohnmachtsgefühl der islamischen Welt gegenüber dem Westen? Ein Erklärungsversuch

VON UWE SIMSON

Die antiwestliche Militanz der islamischen Welt ist unübersehbar; sie lässt sich auch durch noch so gutwilliges Bemühen um „Dialog“ nicht aus der Welt schaffen. Während die meisten islamischen Regierungen mit dem Westen immerhin einigermaßen korrekte Beziehungen unterhalten, ist die politische Melodie, auf die große Teile ihrer Bevölkerungen hören, ein gegen den Westen gerichteter Islamismus.

Diese antiwestliche Militanz wird bei uns manchmal als Reaktion auf die politischen und militärischen Aktionen des Westens erklärt oder als Folge des Palästinakonflikts. Aber der spektakulärste Anschlag zeigt, worum es eigentlich geht: Das World Trade Center war das weithin sichtbare Symbol der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Macht des Westens – und damit der islamischen Machtlosigkeit.

Der Islam ist, anders als das Christentum, vor allem als siegreiche weltliche Macht in die Geschichte eingetreten und hat sich selbst immer in erster Linie als solche definiert; die heutige Machtverteilung ist also ein Sakrileg, ein Werk des Teufels. Es ist die immer und überall zutage tretende westliche Überlegenheit, die die eigene Schwäche quälend bewusst macht und Hass erzeugt. Russland, Indien und China unterdrücken die von ihnen beherrschten millionenstarken muslimischen Bevölkerungen erheblich härter als etwa Israel die Palästinenser. Wenn die Empörung sich trotzdem in erster Linie gegen uns richtet, dann gilt sie nicht dem, was wir tun, sondern dem, was wir sind.

In der Geschichte der Menschheit konnte Macht auf sehr verschiedenen Grundlagen beruhen. Charakteristisch für unsere Zeit ist, dass ein Element zum alles entscheidenden Schlüsselfaktor geworden ist: Macht ist heute das Ergebnis erfolgreicher Industrialisierung. Ein nicht industrialisiertes Land muss, um mächtig zu werden, den Prozess der Industrialisierung nachholen. Tatsächlich lässt sich die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch des Ostblocks als weltweiter Kursus in nachholender industrieller Entwicklung betrachten, an dem so gut wie alle unterentwickelten Staaten teilgenommen haben.

Heute nun zeigt sich, dass die Teilnehmer diesen Kursus mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen abgeschlossen haben. Einige wenige haben das Klassenziel erreicht, die erdrückende Mehrzahl der Teilnehmer aber schneidet mit ungenügenden, oft sogar katastrophalen Ergebnissen ab.

Welche Faktoren sind dafür ausschlaggebend? Die geografische Umwelt kann keine große Bedeutung haben, sonst wäre Finnland nicht reich und Marokko nicht arm. Auch die koloniale Abhängigkeit kann es nicht sein: Marokko war ähnlich lange fremdbeherrscht wie Korea, das heute Autos exportiert. Schließlich führt auch das gesellschaftlich-wirtschaftliche System nicht weiter, denn von den erfolglosen Ländern haben einige auf Plan, andere auf Markt gesetzt, manche haben beide Modelle ausprobiert; in der Ordnungspolitik der wenigen Erfolgreichen mischen sich Elemente von beiden.

Es muss also etwas anderes sein. Wir kommen der Sache näher, wenn wir die Frage stellen, welche Merkmale den Angehörigen der einzelnen Leistungsgruppen gemeinsam sind. Hier zeigt sich, dass die erfolglos gebliebene Gruppe sich zum größten Teil aus schwarzafrikanischen Staaten zusammensetzt, dass die islamischen Staaten (ausgenommen einige südostasiatische mit größeren chinesischen Minoritäten – führend ist Malaysia) keine substanziellen Fortschritte gemacht haben und dass die erfolgreichste Absolventengruppe aus den „konfuzianischen“ Staaten besteht. Ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg ist offenbar die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis.

Wie bestimmt das „kulturelle Erbe“ einer Gesellschaft ihre Entwicklungschancen? Im Fall des Islam scheint die Antwort einfach zu sein: Der Kulturkreis ist nach der Religion benannt, diese beruht auf einem geoffenbarten Buch, dem Koran, der seinem Anspruch nach alle jenseitigen und alle diesseitigen Angelegenheiten klar regelt. Im Islam, wie im Christentum, geben die heiligen Schriften naturgemäß keine eindeutige Antwort auf Fragen, die sich in der Zeit ihrer Entstehung nicht gestellt haben: Markt oder Plan, Monarchie oder Republik, repräsentatives oder ein anderes System, binnen- oder außenorientierte Entwicklung – Fragen, die ein heutiges Entwicklungsland zu beantworten hat.

Priorität hat die Realpolitik; die religiösen Mittel zu ihrer Legitimierung haben sich noch immer gefunden. Religion ist im Gesellschaftsprozess die abhängige Größe – die unabhängige ist das Streben nach Macht und Wohlstand. Worum es eigentlich geht, zeigt in fast tragischer Weise die Tatsache, dass es für viele Millionen junger Muslime zur ersehnten Vernichtung des Westens nur eine einzige Alternative gibt: Auswanderung in den Westen.

Der Prozess, der zur heutigen Einteilung der Welt in „entwickelte“ und „unterentwickelte“ Regionen führte, begann für alle außerokzidentalen Gesellschaften in dem Augenblick, als ihnen bewusst wurde, dass sie ihre Unterlegenheit nicht mehr aus eigener Kraft beheben konnten. Das war in Russland um 1700, im Osmanischen Reich gegen 1800 und in Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall. Das Motiv der Öffnung für den Westen war in allen Fällen dasselbe: Vergrößerung der eigenen Machtbasis. Sehr verschieden waren allerdings die Methoden, mit denen die einzelnen Gesellschaften das Machtgefälle überwinden wollten.

Die politische Klasse im Osmanischen Reich wollte westliche Kriegstechnik übernehmen, ohne sich mit der Frage zu befassen, an welche politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Produktion dieser Dinge gebunden war. Es ging um den Besitz des fertigen Produkts – seine Herstellung war uninteressant. Die Japaner wollten diese Dinge selbst produzieren und haben es auch, schon vor der „Öffnung“, oft genug getan. Seither gibt es keinen wesentlichen Bestandteil westlicher Kultur, mit dem sich Japaner nicht eingehend beschäftigt hätten. Die Japaner lernten industrielle Technik innerhalb weniger Jahre so gut zu handhaben, dass sie westlichen Industrien ernsthaft Konkurrenz machen konnten.

Für Erfolg oder Misserfolg der nachholenden Entwicklung ist – so meine Hypothese – das kulturelle Erbe in Form eines bestimmten Weltbildes ausschlaggebend, das die großen Kulturen der Welt aus der gesellschaftlichen Grundstruktur ihrer Entstehungszeit heraus entwickelt haben und das die Aufmerksamkeit der Menschen auf bestimmte Sachverhalte lenkt und von anderen abzieht, das gewisse Handlungsweisen reflexartig hervorruft und andere verhindert. Das Weltbild selbst ist nicht hinterfragbar – es übt eine absolute Herrschaft aus.

Wenn wir diese Hypothese auf die konfuzianische und die islamische Welt anwenden, ergibt sich Folgendes: Das in der chinesischen (konfuzianischen) Kultur herrschende Prinzip „Integration von unten“ ist so stark, dass fremde Herrscher sehr bald assimiliert werden und dass Epoche machende politische Bewegungen von Bauern getragen werden: so 1368 die Vertreibung der Mongolen und in unserer Zeit die Einführung des Kommunismus, der sich zum Entsetzen der Russen auf die bäuerliche Bevölkerung stützte.

Das grundlegende chinesische Gesellschaftsmodell, das alle historischen Umschwünge überdauert hat, ist das einer produktiven, nach außen von legitimen Herrschern geschützten, kulturell homogenen riesigen Gesellschaft, die in ein harmonisches, von vernünftigen Gesetzen bestimmtes Universum eingebettet ist. In der Gesellschaft herrscht ein Klima des Vertrauens (untereinander und der Herrschaft gegenüber).

Herrschaft im Islam ist nicht, wie in China, aus der eigenen Gesellschaft erwachsen, aus der eigenen Kultur; sie ist das Ergebnis der Überschichtung einer primär bäuerlichen Majorität durch eine von außen kommende Herrscherkaste. Der islamische Herrschaftsverband ist, sobald er über die arabische Halbinsel hinausgreift, ein Konglomerat kulturell heterogener Elemente, das von der herrschenden Minorität mit Gewalt zusammengehalten wird, und nicht durch kulturell fundierten Konsens wie bei den Chinesen.

Welchen Stimulus stellt nun die jeweilige Kultur überhaupt für die wirtschaftliche Betätigung bereit? Die Chinesen sind zufrieden, wenn Ruhe und Ordnung herrschen und sie ihren Geschäften nachgehen können; das tun sie in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit anderen Chinesen. Von der Obrigkeit wollen sie in erster Linie in Ruhe gelassen werden. Reich wird der erfolgreiche Produzent.

Bei den Muslimen liegt der Fall komplizierter. Die traditionelle islamische Art des Erwerbs ist durch die Grundstruktur der frühen islamischen Gesellschaft vorgegeben: Sie läuft über die Konkurrenz innerhalb der herrschenden Minorität um die Erträge der Herrschaft, also um das der Mehrheit abgepresste „Mehrprodukt“. Reich wird nicht der Produktive, sondern derjenige, der innerhalb der herrschenden Minorität eine gute Position hat. Die Rolle des Produzenten ist der unterworfenen ungläubigen Mehrheit zugewiesen; der Wohlstand des Gläubigen hängt von seinen Beziehungen zum Herrscher ab.

Gesucht wird daher nicht die Möglichkeit ungestörter wirtschaftlicher Betätigung, sondern die Nähe zur Herrschaft: als Beamter, Politiker, Militär oder Gottesmann. Im Gegensatz zu China finden wir hier „Integration von oben“, die Assimilation der Unterworfenen an die Herrscherkaste. Das führte dazu, dass schließlich die Masse der beherrschten Ungläubigen fast völlig verschwand und das ursprüngliche islamische Projekt „Abschöpfung und Verteilung von Mehrprodukt“ immer aussichtsloser wurde.

Die damit naturgemäß immer schärfer werdende Konkurrenz um einen immer kleineren Kuchen führt zu Misstrauen unter den Konkurrenten und gegen den Herrscher, der nicht mehr als legitim betrachtet wird, da er offenbar nicht in der Lage ist, die „richtige“ Welt aufrechtzuerhalten. Die Realität hat sich also grundlegend verändert. Eisern beibehalten wurde aber das ursprüngliche, imponierend geschlossene Gebäude aus Werten, Normen und Verhaltensweisen, das schon wenige Jahrhunderte nach der Eroberung nicht mehr die zeitgenössischen Zustände, sondern die Realität der heroischen Frühzeit abbildete. Die Folge ist eine Art politischer „Phantomschmerz“: Das islamische Weltbild ist das Weltbild einer Herrscherkaste, die über niemanden mehr herrscht.

In den islamischen Gesellschaften von heute wird die Entwicklung von Produktivität also nicht von Individuen abgelehnt; vielmehr ist die Gesellschaft, die von Anfang an Produktivität nicht als ihre Sache betrachtet hatte, heute aufgrund ihres ererbten und kulturell verfestigten Weltbildes nicht in der Lage, die Grundlagen der modernen Produktivität zu erfassen. Man spricht heute allgemein vom Scheitern der Industrialisierung in der islamischen Welt: Man hat sich Technik, Industrie und Wohlstand so glühend gewünscht, aber es ist leider nichts geworden.

Die ganze Wahrheit ist noch unerfreulicher: Man hat es nirgends wirklich versucht. Vor den schmerzlichen Veränderungen in allen Lebensbereichen, ohne die der Schritt zur Industriegesellschaft nicht getan werden kann, vor der Zumutung jahrzehntelangen Konsumverzichts und vor scharfen Eingriffen in die soziokulturelle Substanz (etwa die Rolle der Religion in der Politik oder die der Frau in der Gesellschaft) sind die islamischen Regierungen immer zurückgeschreckt. Die Regierenden wissen, dass ihre sowieso schon brüchige Legitimität diese Belastungsprobe nicht bestehen würde.

Die islamische Welt ist weiterhin unproduktiv, arm, machtlos und über weite Strecken chaotisch. Was die Sache noch schlimmer macht: Sie unternimmt auch keine ernsthaften Versuche, diesen Zustand zu ändern. Und sie weiß, dass das so ist. Die dramatische Zunahme der Asylbewerberzahlen 1989/90 ist ja nicht mit plötzlicher Verschärfung der politischen Unterdrückung zu erklären, sondern mit dem Zusammenbruch der von den Regierungen aufrechterhaltenen, meist sozialistisch unterfütterten Wohlstandsillusionen: Die Menschen sahen plötzlich, dass es nur einen Weg zum Wohlstand gibt und dass ihre Gesellschaft diesen Weg nicht beschreiten würde.

Eine eigenständige Lösung des Problems hat sich nur die Türkei einfallen lassen: Sie will der EU beitreten. Das Land, das nie Kolonie war, ist mit Kapital- und menschlichen Ressourcen gut ausgestattet; es hat nach dem Zweiten Weltkrieg Marshallplan-Gelder bekommen und bei ihrer Verwendung immer freie Hand gehabt. Es hat trotzdem nur wenig zustande gebracht, was heute den Namen „Industrie“ verdient. Ebenso wie Griechenland, das erste nichtokzidentale Mitglied der Europäischen Union, erwartet die Türkei, dass der Beitritt ihr die Industrialisierung nicht erleichtert, sondern erspart.

Es ist, wenn man dieser Argumentation folgt, nicht ausgeschlossen, dass die islamische Welt auf Dauer an der Industrialisierung scheitert. Denn es handelt sich um nichts weniger als um die Aufgabe eines Weltbildes. Es ist zwar von großer Integrationskraft und Geschlossenheit, es ist aber auch ein Gehäuse, das nur sehr schwer verlassen werden kann. Es gibt für alle Misserfolge eine „islamische“ Erklärung, die eine produktive Auseinandersetzung mit der Außenwelt erspart. Die Politiker der islamischen Länder werden sich, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, die Zustimmung ihrer Völker verstärkt dadurch sichern, dass sie die Schuld an ihrer wirtschaftlichen Misere dem Westen zuschieben und die Konfrontation weiter verschärfen.

Die Bedrohung aus der islamischen Welt wird nicht die Form des Krieges im klassischen Sinn annehmen, eben weil militärische Schlagkraft heute an erfolgreiche Industrialisierung gebunden ist. Wohl aber ist mit weiteren Aktionen unterhalb der militärischen Schwelle zu rechnen, die zwar nicht die Aussicht eröffnen, den westlichen Satan zu beseitigen, aber deshalb attraktiv sind, weil sie dem Hass in der islamischen Welt immerhin ein Ventil bieten.

UWE SIMSON, geboren 1936, wurde unter Erhard Eppler (SPD) Referent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn. Simson hat zehn Jahre in islamischen Ländern verbracht und dort Freundschaft und geistige Anregung erfahren. Eine lange Fassung seines Beitrags erschien im Merkur