: Der Trend zu den kühlen Bergen
Im wilden Westen Zyperns laden alte Dorfhäuser Touristen zu einem Urlaub abseits der viel besuchten Strände ein. Der so genannte Agrotourismus soll eine andere, sanfte Art des Tourismus auf die Insel bringen. Eine Fahrt in die Berge
VON KLAUS HILLENBRAND
„Panayia? In dieses Bergnest willst du?“ Zyprioten in der Hauptstadt Nikosia sind mehr als verwundert. Schließlich gehören Touristen auf Zypern grundsätzlich ans Meer, wo sie gut durchgebraten ein oder zwei Wochen zwischen Hotelpool und Mittelmeer pendeln, ihre wertvollen Devisen hinterlassen und ansonsten nicht weiter auffallen. Dass es Urlauber in den brütend heißen Sommermonaten in die kühleren Berge zog, ist schon viele Jahrzehnte her. Damals, als Sonnenbaden noch nicht „in“ war. Damals, als König Faruk von Ägypten eine Sommerresidenz in den zypriotischen Troodos-Bergen besaß. Als nicht wenige dem Holocaust entronnene ehemals deutsche Juden sich in den Kiefernwäldern melancholisch an ihre frühere Heimat erinnert fühlten. Viele der alten Hotels dämmern dahin.
Doch nicht nur Hotels, ganze Dörfer sind vom Aussterben bedroht. Geld kann man nur an der Küste verdienen, und so ziehen die Jungen weg nach Paphos, Limassol oder Ayia Napa und kommen höchstens noch am Wochenende in die Berge zu Besuch. Die Häuser drohen zu verfallen. Und nur die Alten bleiben.
Um das langsame Aussterben ganzer Regionen zu verhindern vermarkten die Zyprioten ihr Inland, den Urlaub jenseits des Strands. Nicht in großen Hotels oder Ferienanlagen, in alten Wohnhäusern kann man so den Alltag der Insulaner mit erleben. Agrotourismus soll eine andere, sanfte Art des Tourismus auf die Insel bringen.
In engen Kurven windet sich die Straße durch das Hügelland in die Troodos-Berge hinauf, vorbei an terassierten Weinfeldern. Panayia, 800 Meter hoch gelegen, besitzt drei kleine Restaurants (eines mit Hotel), zwei Kramläden mit allem, was man brauchen könnte (und dazu noch einigem mehr), zwei Kaffeehäuser, wo die Alten den Tag verbringen (ausschließlich Männern vorbehalten), zwei Barbiere, das Geburtshaus des ehemaligen Präsidenten und Erzbischofs Makarios (nebst Gedenkstätte), eine Durchgangsstraße (eng), viele kleine Gassen (noch enger), alte und neue Häuser, vielleicht 1.000 Einwohner. Und es gibt hier neuerdings mitten im Dorf schöne, uralte Steinhäuser, die in Ferienwohnungen umgewandelt worden sind.
Ganz anders als die uniformen Reihenhaussiedlungen an der Küste versprechen diese Unterkünfte ein individuelles Urlaubserlebnis. Und sie haben im kühlen zypriotischen Winter gegenüber manchen Mittelklasseunterkünften am Meer einen Vorteil: In den im Innern völlig umgebauten Gebäuden ist eine Zentralheizung eingebaut.
In Panayia reduziert sich die Geschwindigkeit des Lebens innerhalb weniger Stunden. Man kann die engen Gassen durchwandern und dabei neue Häuser mit Aluminiumtüren und alte mit ihren hölzernen Balkonen bewundern. Eine kurze Wanderung führt zum kleinen Kloster Chrysorroyiatissa, wo die Ikonen in der dunklen Kirche Wunder bewirken und die Mönche einen hervorragenden Rotwein keltern. Die Weinverarbeitung zu studieren ist auch in der örtlichen Kelterei von Panayia möglich. Dann gibt es noch die grandiose Aussicht in das Akamas-Vorgebirge im Westen, mit dem Blick auf die vielen kleinen Dörfer der Umgebung. Die traditionellen Abendgerichte im Restaurant „Green Leaf“ an der Hauptstraße, wo das Wirtsehepaar den Gast schon freundlich erwartet. Oder man lässt das alles einfach bleiben, sitzt auf der großen Terasse vor dem Haus, blickt über die Dächer des Dorfs in die Berge und tut: nichts.
In Panayia gibt es keine Zeitung. Schon gar keine englische oder gar deutsche. Nicht das allein ist Antrieb genug, das Dorf zu verlassen, zur Küste, zu den großen Hotels, den Andenkenläden, Bars und anderen Vergnügungsbetrieben. Bis in die Bezirkshauptstadt Paphos, in eine völlig andere Welt benötigt der Wagen eine gute halbe Stunde.
Doch Paphos hat noch anderes zu bieten als Strandleben und Hafenkneipen. Anhand archäologischer Denkmäler lässt sich in der Geschichte der Insel nachblättern, kann man die eindrucksvollen Hinterlassenschaften von Griechen und Römern direkter als im Museum besichtigen. Die kunstvollen Mosaiken, die in den Ruinen der Häuser der römischen Oberschicht aufgedeckt worden sind, zeugen von Luxus, Sinnenfreude und Kunstsachverstand in der antiken Welt. Man stolpert zwischen bröckelnden Mauern, das nahe Meer im Blick, und durchschreitet ehemalige Badezimmer und Wohnräume, erkennt die perfekt mit Ziegeln erbauten Fußbodenheizungen, wundert sich über wilde Großkatzen, die, auf Mosaiken abgebildet, hier einmal gelebt haben sollen. Ein kleines Amphitheater wird bisweilen für Aufführungen antiker Theaterstücke genutzt. Auch das unterirdische Gräberfeld, fälschlich Königsgräber genannt, ist aufgedeckt, und man kann durch die Nischen für die Toten der ägyptisch-griechischen ptolemäischen Oberschicht spazieren, die vor der römischen Herrschaft Zypern regierte.
Nach den Römern kam Byzanz. Konstantinopel beherrschte Zypern eintausend Jahre lang. In Paphos sind die Ruinen der orthoxen Bischofskirche, deren Anfänge bis auf das 4. Jahrhundert zurückreichen, Zeugen dieser Epoche. Die Archäologen haben einige Säulen der Kreuzkuppelkirche wieder aufgerichtet, die Reste der fünf Kirchenschiffe sind deutlich erkennbar.
2.000 Jahre Geschichte an einem Tag und doch nur einen kleinen Ausschnitt der von endlosen Eroberungen geprägten Geschichte Zyperns repräsentieren die Ausgrabungsstätten in Paphos. Gerdezu neu ist dagegen das türkische Fort am Hafen, das entsprechend einer arabischen Inschrift am Eingang auf das Jahr 1592 datiert wird und für die 300 Jahre währende osmanische Epoche von 1571 an steht. Wer es noch moderner haben möchte, muss nur in die Oberstadt fahren: Dort repräsentieren die neoklassizistischen Verwaltungsbauten die britische Herrschaft ab dem Jahre 1878.
Mehrere Jahrtausende zurück wiederum geht es am Rande des kleinen Dorfs Kouklia südöstlich von Paphos, des früheren Alt-Paphos. Hier befand sich einst eine der wichtigsten Kultstätten der antiken Welt: das Heiligtum der Aphrodite. Die Fruchtbarkeitsgöttin, geboren an den Gestaden Zyperns, wurde schon um 1200 vor Christus verehrt. Wie die Festlichkeiten in jedem Frühjahr in Alt-Paphos genau ausgesehen haben, wissen wir nicht. Weit verbreitet war aber offenbar eine kultische Prostitution, bei der die Frauen unter Priesteraufsicht fremde Männer empfangen mussten.
Heute erinnern nur noch einige große Steinblöcke an den Kult in der Bronzezeit. Die meisten Denkmäler, darunter Reste des Apollo-Tempels, stammen aus römischer Zeit, denn auch damals wurde noch Aphrodite gehuldigt. Ja, selbst im 20. Jahrhundert kamen noch Zypriotinnen nach Alt-Paphos, um Hilfe gegen die Unfruchtbarkeit zu erbeten.
Das Bergdorf Panayia kann mit solchen Sensationen nicht mithalten. Denn die antike Zivilisation konzentrierte sich weitgehend auf die Küsten Zyperns. Vom Meer kamen die Eroberer, dort entstanden ihre Städte und Kultplätze. Erst eine lang anhaltende Serie arabischer Seeräuberüberfälle im Mittelalter bewirkte, dass sich viele Menschen ins Landesinnere zurückzogen. Klöster und byzantinische Dorfkirchen, im Innern vollständig mit kunstvollen Fresken ausgemalt, erinnern an diese unsicheren Zeiten. Griechen und Römer dagegen nutzten das dicht bewaldete Hinterland vor allem zum Holzschlagen. Über hunderte von Jahren wurde der Urwald dezimiert, um aus den Stämmen immer neue Flotten zu erbauen.
Gleich hinter Panayia, auf dem Weg nach Osten in die Troodos-Berge, wird der Weg enger, und irgendwann hört der Asphalt ganz auf und eine Schotterstraße beginnt. Die dichten Kiefernbestände des Paphos-Waldes sind menschenleer, kein einziges Dorf liegt am Wegesrand. Tiefe Schluchten graben sich zwischen den Bergen ein. Der Weg schlängelt sich die steilen Hänge entlang zum Tal der Zedern. Tausende dieser bizarren Bäume wachsen in dieser weitgehend unzugänglichen Region. Der Paphos-Wald ist auch letztes Rückzugsgebiet für das Mufflon, ein scheues, wild lebendes Bergschaf. Autos kommen hier selten durch, aber noch rarer sind Wanderer – diese Art der Fortbewegung ist unter Zyprioten weitgehend unbekannt. Ein Volksport dagegen ist das Picknick am Wochenende. Mitten im Troodos-Wald warten einige Grillplätze auf den Ansturm der Großfamilien im Sommer, wenn es die Städter in die kühleren Berge zieht und dort unablässig die Souvla-Spieße rotieren. Glücklicherweise gibt es für Notfälle eine eigene Waldfeuerwehr.
Nach dem Raubbau durch Griechen, Römer und Osmanen war der unerschlossene Paphos-Wald letzter Rest der früher vollständigen Bewaldung Zyperns. Der Humus ist dünn, darunter verbergen sich Steine und Fels. Bodenerosionen, Trockenheit und Verwüstungen waren die Folge des ungehemmten Kahlschlags in weiten Teilen Zyperns. Erst die britische Kolonialverwaltung stoppte diese ökologische Katastrophe und begann mit der Wiederaufforstung. Heute ist nahezu das ganze, am höchsten Punkt fast 2.000 Meter hohe Troodos-Gebirge wieder dicht mit Bäumen bestanden, und so bildet Zypern einen einzigartigen Kontrast zu den kahlen Inseln Griechenlands.
Das Mufflon, schon einmal ob seines Wohlgeschmacks beinahe ausgestorben, vermehrt sich wieder beständig. Davon kann man sich in der Forststation Stavros tis Psokas überzeugen. Hier, mitten im Wald an einer Straßenkreuzung, haben die Förster ihr Hauptquartier, und auch die Feuerwehr ist dort stationiert. In einem Gehege lassen sich die Tiere, die sonst nur ganz selten zu sehen sind, bequem beobachten. Die Förster von Stavros tis Psokas sind stolz auf ihre streng geschützten Tiere und den Wald. Die Ansiedlung von Rehen und Hirschen dagegen hat sich als böser Fehlschlag entpuppt, denn die Tiere fraßen das wenige Unterholz des Waldes in Rekordgeschwindigkeit weg. Das Experiment musste abgebrochen werden – und in Stavros gab es immer wieder Hirschbraten.
Das Weindorf Panayia kann zwar keine antike Geschichte repräsentieren und mag nur wenige Urlauber anziehen – dennoch kennt jeder griechische Zypriote das Dorf. Denn hier wurde am 13. August 1913 ein gewisser Michalis Christodoulou Mouskos geboren – und damit sind wir bei der neueren Geschichte Zyperns. Denn Mouskos wurde Novize im Kloster, besuchte danach das Gymnasium in Nikosia und erreichte 1948 das Bischofsamt in Larnaka. Seit 1950 Erzbischof der unabhängigen griechisch-orthodoxen Kirche Zyperns erreichte Makarios, wie er sich nun nannte, 1960 gar das Amt des ersten Präsidenten der aus britischer Kolonialherrschaft entlassenen Republik Zypern. So wurde Makarios nach alter osmanischer Tradition zum Ethnarchen, dem geistlichen und weltlichen Führer der orthodoxen Christen. Trotz Krieg und Teilung ist der 1977 verstorbene Makarios noch heute in den Augen vieler Zyperngriechen der Volksheld ihrer Insel – und deshalb ist Panayia auch nicht einfach irgendein Dorf.
Viele Zyprioten kommen zur Besichtigung des winzigen Geburtshauses von Makarios, das nur aus zwei Räumen besteht – einem für die Menschen, einem für das Vieh. Im Makarios-Zentrum lassen sich alte Fotografien des Ethnarchen bestaunen. Neben anderen Kleidungsstücken ist ein in England gefertigtes Hemd ausgestellt, das einst von Makarios selbst getragen worden ist – eine moderne Reliquie. Und während im Innern eine Wachsmaske Makarios’ kühl den Besucher empfängt, steht draußen im Hof eine überlebensgroße Statue des Erzbischofs.
Gleich hinter der Statue hört das Dorf an einem Abhang auf. Dort geht der Blick gen Westen auf die Bergkette des Akamas, benannt nach dem Geliebten der Aphrodite. Zeit, noch einmal durch die Gassen zu streifen.
Wohnen in Panayia: Archontiko tou Meletiou, Besitzerin Maria Leonidou. Tel. +357 22 340071. Weitere Unterkünfte auch in anderen Dörfern über die Zypriotische Gesellschaft für Agrotourismus (siehe Kasten)