Stolpern über Unrecht

Noch immer werden Gehirne der Euthanasie-Opfer der Nazis gefunden. Gedenkveranstaltung in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf

„Wir werden nicht mehr vergessen. Endlich wird auch unser Leid ernst genommen.“

von ANDREAS SPEIT

„Die Geschichte der Euthanasie-Opfer lässt uns nicht los“, sagt Michael Wunder am Ehrenmal der Geschwister Scholl. „Erneut sind 80 Gehirne von Opfern der nationalsozialistischen Euthanasie in Wiener Instituten gefunden worden“, muß Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf den Familienangehörigen der Opfer aus der ehemaligen Hamburger Anstalt berichten. Anlässlich des „Tags der Befreiung“ hat die Stiftung an die 30 Geschwister, Verwandte und Freunde der über 500 Euthanasieopfer der Anstalt zu einem „Kreuzweg der Stolpersteine“ eingeladen.

„Mit den Stolpersteinen“, hebt Pastor Rolf Baumbach hervor, Direktor der Stiftung, „wollen wir erinnern, wie Ärzte und Pflegepersonal gestrauchelt und gefallen sind.“ Die Steine mit den Namen der Opfer ließen einen im Alltag über die Mitschuld der Medizin stolpern und lüden zum Nachdenken über die eigene Verantwortung ein.

An den fünf Stationen des Kreuzwegs in der Region Hamburg halten nicht nur die Betroffenen inne. Passanten und Anwohner bleiben stehen, wenn eine Angehörige über den Leidensweg ihres Verwandten vor einem Stolperstein berichtet und fragen nach, um mehr zu erfahren. Zum Ende jedes Besuches erklingt ein Akkordeon, Blumen werden niedergelegt.

Aber nicht nur das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen wird gegenwärtig, sondern auch der Missbrauch durch die Täter und ihre Nachfolger. „Erst 2002 hatte die Stadt Wien die Überreste von 791 NS-Opfern beigesetzt“, erklärt Wunder am Ehrengrab auf dem Friedhof Ohlsdorf. Das kürzliche Auffinden weiterer Gehirnpräparate zeige jedoch, dass „Mediziner bis heute meinen, über die mit Unrecht erworbenen Präparate frei verfügen zu können“.

Schon 1996 hatten die Angehörigen geglaubt, die letzten sterblichen Überreste von zehn Hamburger Frauen und Mädchen, die in der Wiener Anstalt Spiegelgrund für medizinische Versuche missbraucht, getötet und obduziert worden waren, beerdigt zu haben. „Als ich von den wiedergefundenen sterblichen Überresten meiner Schwester erfuhr“, erzählt Antje Kosemund an dem Stolperstein für ihre Schwester Irma Sperling in der Adolf-Schönfelder-Straße, „war ich entsetzt.“ Jahrelang hatte sie mit den Wiener Behörden um die Freigabe der Gehirne gestritten.

Bei den Stolpersteinen für die Familie Neumark in der Grindelallee 23 gedenken erstmals Vertreter der Jüdischen Gemeinde und der Behindertenhilfe gemeinsam der NS-Opfer. In der sechsköpfigen Familie trafen die verschiedenen Verfolgungen der behinderten und jüdischen Menschen im Nationalsozialismus zusammen. Von den Neumarks hat niemand überlebt.

Am Ende des Tages sind doch alle froh, trotz der Last des Vergangenen mitgegangen zu sein. „Wir werden nicht mehr vergessen“, sagt ein behinderter Freund eines Opfer, und eine Angehörige betont: „Endlich wird auch unser Leid ernst genommen.“