Die Lesung muss als Genre behandelt werden

Warum kommen immer wieder so viele Leute zusammen, um sich ein Stück Prosa schlecht vorlesen zu lassen? Ein Sammelband macht sich Gedanken über die Autorenlesung

Nachdenken über die Autorenlesung? Wer schon mal ihre trockene Luft geatmet hat, ist geneigt, das Angebot auszuschlagen. Dennoch: Beginnt man, sich Fragen zu einer Veranstaltungsform zu stellen, die selten hält, was sie verspricht, ohne aber dabei, und das ist erstaunlich, ihre Fähigkeit zur Verlockung einzubüßen, dann kommt man schnell vom Hundertsten ins Tausendste. Und schon fängt es an, interessant zu werden: wozu Lesungen?

Hat ein Gedicht, eine Erzählung eine hörbare Stimme? Sollte die nicht allein im Bewusstsein jedes Lesers entstehen? Wie können Klänge im Kopf zu Klängen im Raum werden? Ist die Lesung eine Möglichkeit für den Autor, sein Gesicht zu zeigen und öffentlich seine Arbeit zu simulieren, also eine „performative Spiegelung des Schöpfungsaktes“ (Johannes Ullmaier)? Oder stellt sie eine wirkliche Verbindung her zu den Ursprüngen der Literatur im gesprochenen Wort? Und, die Frage der Fragen: „Warum sind alle diese Leute zusammengekommen, um sich ein Stück Prosa schlecht vorlesen zu lassen?“ (Richard Powers).

Wer, so könnte man zuspitzen, braucht den Lesezirkus? Die Literatur? Oder nur der Betrieb? Letzteres versteht sich von selbst, doch dem schnellen Urteil ins Wort fallend, plädiert das vorliegende Buch vielstimmig für die Gültigkeit der ersten Antwort. Warum auch nicht?

Wenn es diese ganzen Fragen gibt, wäre dann die Lesung nicht ein willkommener Gegenstand des Nachdenkens über Wesen und Funktion der Literatur? Es geht um die Begründung einer literarischen Auffassung von mündlichem Vortrag und Publikumsgespräch (Walter von Rossum, Hauke Hückstädt, der die schöne Formulierung vom „begehbaren Feuilleton“ prägt), um Leseerfahrungen als Phänomene (John von Düffel, Judith Hermann, Richard Powers), um Aspekte des Vortrags selber, um Stimme, Körper, Inszenierung (Michael Lentz, Brigitte Olischenski, Ulrike Draesner), und natürlich geht es auch um die Verwertungszusammenhänge, in denen gelesen wird (Benedikt Geulen, Stephan Porombka). Die Vorzüge des Bands: nichts wohlfeil Anekdotisches, kein Gejammer, keine Befindlichkeitsaufsätze.

Auf eine Einleitung wurde klug verzichtet, stattdessen greifen ein gutes Dutzend Beiträge meinungsstarker Autoren ganz von selbst ineinander und werden vom Herausgeber Thomas Böhm am Ende mit sicherer Hand zu Fazit und Forderung verwoben: Die Lesung ist ein Genre, behandelt sie auch so! Weil es an einem literarischen Verständnis der Form gebricht, weil es also weder Kritik noch Kriterien gibt, weil meistens weder Veranstalter noch Vortragende die gemeinsame Darbietung einer konzeptuellen Vorbereitung für würdig erachten, weil viel zu selten „Erkenntnisinteresse“ und „Gestaltungsaufwand“ (Böhm) spürbar werden, deshalb gibt es so viele schlechte Lesungen. Ein paar Fragen, richtig gestellt, könnten Abhilfe schaffen.

KARSTEN KREDEL

Thomas Böhm (Hg.): „Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen“. Tropen Verlag, Köln 2003, 192 Seiten, 15,80 €