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Archiv-Artikel

Die Freuden des Aquariums

Das SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, sitzen die Menschen draußen ohne zu murren vor ihren Fernsehapparaten

Die Menschen draußen im Lande … Von Politikern und Prominenten bevorzugte Redewendung

In unserer Zeit, in der es keine Klassenkämpfe mehr gibt, sind Zuordnungen wie „oben“ und „unten“ nicht mehr salonfähig. Noch gibt es zwar Regierende und Regierte, und wenn die Regierten verärgert sind, sprechen sie gern von den Regierenden als denen „da oben“. Umgekehrt jedoch funktioniert das nicht. Ein Regierender, der die Regierten als die „da unten“ bezeichnen würde, wäre alsbald weg vom Fenster und hätte nicht einmal mehr als Unternehmensberater eine Chance. Als Ersatz hat sich die Phrase von den „Menschen draußen im Lande“ durchgesetzt. Damit bewegen wir uns im Bereich der Wahrnehmung und der Dispositive, die die Wahrnehmende benötigt, um zu logischen Aussagen über die Wirklichkeit zu kommen.

Wer von den „Menschen draußen“ spricht, muss irgendwo „drinnen“ sitzen. Das waren in früheren Jahrhunderten die Bewohner von Palästen und Burgen; die Menschen draußen funktionierten als Leibeigene und Kanonenfutter, und die Kategorien „draußen“ und „drinnen“ bestimmten auch physisch und geografisch das Wahrnehmungsdispositiv. Von den Burgzinnen aus war es möglich, weit in das Land zu schauen, und die Menschen da draußen waren allenfalls als Gewimmel erahnbar. Die frühe Landschaftsmalerei im 16. Jahrhundert übernahm diese Perspektive und begann erst ganz allmählich, sich für Details zu interessieren: für schwer schuftende Bauern, eine Postkutsche in der Ferne, die Hütte eines Köhlers mit seiner Kinderschar. Durch den Bildrahmen konnte man wie durch ein Fenster nach draußen sehen, aus erhöhter Position, und die Welt als geordnetes Panorama genießen. Dem Blick des Fürsten fügten sich die Verhältnisse zu klaren Aufteilungen; jeder hatte, draußen und drinnen, seinen festen Platz.

In der Demokratie ist das alles durcheinander geraten, aber die feudalherrschaftliche Vorstellung von den „Menschen draußen im Lande“ hat sich nicht nur gehalten, sondern als Redewendung eine erstaunliche Karriere gemacht. Kaum ein Politiker, ein Wirtschaftsboss, ein Banker oder ein hoher Gewerkschaftsfunktionär, der sich ihrer nicht gern bedient, wenn er nach seiner Meinung zu einem Problem gefragt wird. Oberflächlich betrachtet, wird diese Redeweise durch die mediale Anordnung bestätigt: Diejenigen, die so reden, stecken tatsächlich „drinnen“, nämlich in einer Kiste, in der man sie durch eine Mattscheibe besichtigen kann. Manchmal rappeln und rumoren sie wie die Puppen in einem Kasperletheater, und manchmal glotzen sie uns durch die Scheibe wie die Fische in einem Aquarium an. Wir glotzen zurück. So hat uns das Fernsehzeitalter gleichzeitig die Freuden des Kasperletheaters und des Aquariums beschert, und wir nehmen es ganz klaglos hin, dass die Figuren da drinnen uns als „Menschen draußen“ anreden. Seltsam: Wir werden beschimpft, bemitleidet und für leicht bekloppt gehalten. Aber es fällt keinem mehr auf.

Es müsste uns aber auffallen, denn die mediale Anordnung trügt natürlich, und in Wirklichkeit sehen die Verhältnisse anders aus. Jeder, der seinen Fernsehapparat schon einmal geöffnet hat, weiß, dass da keine Politiker drinstecken, auch keine Fische. Vielmehr ist die Mattscheibe an die Stelle der Landschaftsmalerei des 16. Jahrhunderts und anderer früherer Wahrnehmungsgeräte getreten. Dabei ist uns aber das Fenster-Dispositiv erhalten geblieben, das heißt, wir sitzen drinnen und blicken durch einen viereckigen Rahmen nach draußen. Da draußen ist so etwas Ähnliches wie Welt, überall stehen Politiker und andere Prominente herum und rappeln, rumoren und reden so vor sich hin. Blickt man genauer hin, kann man feststellen: Die stehen ganz schön draußen, manchmal stehen sie sogar im Regen, meteorologisch oder im übertragenen Sinn. Es bleibt ziemlich unklar, wen die Politiker, Wirtschaftsbosse, Banker und Gewerkschaftsfunktionäre meinen, wenn sie von den Menschen draußen im Lande reden. Noch weiter draußen als die kann man gar nicht sein.

Man könnte auf die Idee kommen, dass etwas mit ihrer Optik nicht stimmt. Heute redet ja alles von einer falschen oder richtigen Optik, und in der Tat ist unsere Welt so unübersichtlich geworden, dass die komplizierten Sichtverhältnisse oft dafür verantwortlich sind, was die Leute so daherreden. Wohin blicken die Leute, die meinen, sie wären drinnen und sprächen zu den Menschen draußen? Ihr Wahrnehmungshorizont ist in der Regel begrenzt, denn wenn sie so reden, blicken sie meist ziemlich starr in das Objektiv einer Kamera. Dass sie so starr ins Objektiv blicken, anstatt z. B. ihren Gesprächspartner anzusehen, hat ihnen ihr Medienberater empfohlen, der der Auffassung ist, nur so könnten die Menschen draußen die da drinnen richtig verstehen. Sie denken angestrengt an die Ratschläge ihres Medienberaters und daran, ob ihre Krawatte richtig sitzt.

Man kann sich gut vorstellen, dass der solchermaßen medial und körperlich eingezwängte Politiker oder Wirtschaftsboss auch eine eingezwängte Fantasie hat. Die Menschen, die er anredet oder gar überzeugen will, befinden sich weit außerhalb seiner Vorstellungskraft; sie sind weit weg, also irgendwo „draußen“, in einem zivilisationslosen Dunkel, in der es keine Scheinwerfer und keine öffentliche Kamera gibt, die sich für sie interessiert. Das ist übrigens ein Grund dafür, dass mittlerweile nicht nur die Politiker und handelnden Akteure, sondern auch Reporter, Moderatoren und andere Mikrofonhalter von den „Menschen draußen“ reden. Die Realität ist für sie ganz simpel strukturiert: „Drinnen“ – das ist der Welt der Kameras und Scheinwerfer und Mikrofone; „draußen“ wimmeln Menschen herum, und wenn alles mit rechten Dingen zugeht, sitzen sie ohne zu murren vor ihren Fernsehapparaten.

Seltsam: Wir werden beschimpft, bemitleidet und für bekloppt gehalten. Aber es fällt keinem auf

Letztlich aber bleibt auch diese Erklärung unbefriedigend; Medientechnik und Wahrnehmungspsychologie können viel, aber nicht alles erklären. Sprachanalyse könnte womöglich weiterhelfen. Die Menschen „draußen“ leben ja irgendwo „im Land“. Und das Land stellt sich der Redende offenbar als eine flache oder platte Angelegenheit vor, als ein Terrain, auf das er herunterzublicken glaubt. Damit wären wir wieder bei der alten, soliden, aber nicht mehr salonfähigen Formel „oben und unten“, die sich trotz aller historischen Verwerfungen latent in den Köpfen erhalten hätte.

Man müsste also in die Köpfe hineinsehen können. Dann würde sich am Ende vielleicht zeigen: „Draußen“ und „drinnen“ sind Kopfgeburten, die sich auf die Innenwelt unter der Schädeldecke des Politikerkopfes selbst beziehen. „Draußen“ bliebe dann alles, was nicht unter den Schädel passt. Draußen gibt es viel Unberechenbares, drinnen fallen Entscheidungen. Draußen herrscht Unverständnis, drinnen regiert der Durchblick. Der Palast und die Burg und die Landschaftsmalerei des 16. Jahrhunderts wären dann, in den Ganglien der prominenten Akteure, noch immer virulent – als Dispositive, die der Politiker und seine Gehilfen benötigen, um mit dem Innenleben in ihren eigenen Köpfen klarzukommen. Wenn es sich so verhält, ist Hirnforschung angesagt.

Fotohinweis: Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler in Siegen