Die entkrustete Wirklichkeit

Goldenes Sieb: Mit „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“ und „Unterm Pflaster der Sumpf“ ist endlich auch der Abschluss von A. F. Th. van der Heijdens großem, siebenbändigem Zeit- und Erinnerungsroman „Die zahnlose Zeit“ auf Deutsch erschienen

Es muss weh tun, damit sich der Zauber der Wirklichkeit entfalten kannVan der Heijden glaubt nicht, die Literatur müsse wie das Leben selbst sein

von GERRIT BARTELS

A. F. Th. van der Heijden kennt kein Erbarmen. Nicht mit sich, nicht mit seinen Figuren, nicht mit seinen Lesern und wohl auch nicht mit Helga van Beuningen, die seine Bücher kongenial ins Deutsche übersetzt. Über fünfzehn Jahre erstreckte sich für van der Heijden die Arbeit an seinem Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“, immer wieder gab es neue Aspekte, laufend wollten neue Geschichten und neues Material nachgetragen werden. Ursprünglich als dreiteiliger Entwicklungs- und Bildungsroman konzipiert, in dessen Zentrum der Kampf der Hauptfigur Albert Egberts steht, „Taten auf der Welt zu vollbringen, von sich reden zu müssen“, kamen im Lauf der Zeit ein vierter Teil („Der Anwalt der Hähne“), ein Prolog („Die Schlacht um die Blaubrücke“) sowie ein Intermezzo („Der Widerborst“) dazu.

Sie ließen „Die zahnlose Zeit“ zu einem überbordenden Romangefüge werden, zu einem literarischen Paralleluniversum, in dem es laut van der Heijden plötzlich „um alles“ ging: um das Leben, den Tod und die Kunst, um die Zeit, die Erinnerung und das Vergessen, um Gott, die Welt und nicht zuletzt die Niederlande in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Insbesondere aber der zunächst als letzter Teil geplante dritte Band wollte einfach nicht fertig werden. Er schwoll auf fast 1.500 Seiten und zwei Bücher an und ist jetzt, sieben Jahre nach der Veröffentlichung in den Niederlanden, auch auf Deutsch erschienen: „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“ und „Unterm Pflaster der Sumpf“.

Der schiere Umfang weist auf die schwere Geburt dieses Teils der „Zahnlosen Zeit“ hin und dürfte selbst den geübten van-der-Heijden-Leser erschrecken, der ja weiß, dass es sich hierbei nicht um schnell konsumierbares Lesefutter handelt. Allein aber die ersten Sequenzen von „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“ lassen tiefer blicken und liefern Gründe für den Umfang: Da entwirft ein gewisser Gesù Porporà am 23. Juli 1980 das Bild der Niederlande als „Vagina Europas“, als ein Land, das sich geografisch vergleichen lässt „mit einem stilisierten Schnitt durch das weibliche Geschlechtsorgan“, als „sumpfige Möse“ und „dampfender Morast“. Porporà ist Neapolitaner, Sohn eines GIs und einer Italienerin, von Beruf Kinderhändler mit Hauptabsatzmarkt in den Niederlanden, inzwischen aber Heroinschmuggler im Golden Dreieck Asiens.

Drogenhandel, Kinderhandel, Thailand, Italien: Diese Eröffnung wirkt wie der Einbruch der rauen, bösen Welt in die beschaulich-provinziellen Niederlande, in der bis dato nur die Hausbesetzerszene für Aufsehen sorgte. Sie ist jedoch auch der Link zu Albert Egberts und dem Schluss des Prologs „Die Schlacht um die Blaubrücke“ – Albert liest dort am 23. Juli einen Bericht über tote Babys, in deren Körpern Heroin geschmuggelt wird, und er macht sich Gedanken über seine Mitschuld am Tod der Babys und seine Heroinsucht.

In der zweiten Sequenz wiederum, am 30. April 1980, führt van der Heiden die mutmaßliche Muttermörderin Hennie A. ein, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und von Albert beim Verlassen einer Kneipe gesehen wird. Für Albert Anlass, sich der acht Jahre zurückliegenden Zeit zu erinnern, in der er Hennie A.s Prozess monatelang im Gericht verfolgt hat, sowie seiner so genannten Schneenacht im September 1977, die ihn zum Junkie werden ließ.

Man merkt es schon an den Daten, die über den Titeln eines jeden Kapitels stehen: Van der Heijden erzählt nicht chronologisch, sondern in einem Zickzackkurs, dessen Eckpfeiler die Jahre 1972 bis 1980 sind, der sich zusätzlich jedoch oft tief in der vergangenen Zeit verläuft, mit Rückblenden, Erinnerungen und immer wieder neuen Metaphern, für die ein einzelnes Wort oder ein Detail am Rande der Anlass sein können. Selbst wenn dann in „Unterm Pflaster der Sumpf“ zumindest formal die Länge der Zeit durchmessen wird, hat man nie das Gefühl, hier ginge es schnell voran.

Konsequent übersetzt van der Heijden das von Albert in jungen Jahren angestrebte „Leben in die Breite“, in dem sich „alle Ereignisse gleichzeitig abspielten, anstatt zeitraubend aufeinander zu folgen“, in ein Schreiben und Erzählen in die Breite, in dem wiederum nichts dem Zufall überlassen wird: Alle Bilder, Geschichten und Schicksale beziehen sich auf Vorhergehendes oder Zukünftiges, alle Erzählstränge sind miteinander verbunden, und jede Person aus dem dieses Mal vielstimmigen Chor hat direkt oder indirekt mit Albert zu tun: Gesù Porporà, Alberts Freunde Thjum Schwantje und Felix Boezaardt, Hennie A., der Anwalt und Quartalssäufer Ernst Quispel, dessen zukünftige Frau Zwanet Vrauwdeunt, der Junkie Lotsapoppa, der Wirtschaftsprüfer Wendelgelst und viele andere mehr. Die meisten von ihnen sekundieren Albert dabei, „mit seinem Leben zu experimentieren“, Bewegung in sein Leben zu bringen, um so vor allem „die harte Kruste der Vertrautheit, die sich am Mysterium der Wirklichkeit angesetzt hatte, abzuschlagen“.

Es ist dieser Versuch, der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen, der eines der wichtigsten Leitmotive von „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“ und „Unterm Pflaster der Sumpf“ darstellt und einen Großteil der gesamten „Zahnlosen Zeit“ durchzieht. Schlag nach bei Marcel Proust, einem der Vorbilder van der Heijdens: „Wenn die Gewohnheit eine zweite Natur ist, so hindert sie uns doch, die erste kennen zu lernen, von der sie weder die Grausamkeit noch den Zauber besitzt.“ Man könnte auch sagen: Es muss weh tun, damit sich der Zauber der Wirklichkeit entfalten kann. Albert kettet sich deshalb an seine „neue Heldin“, das Heroin; er lässt sich als Kurier im Kinderhandel einsetzen; er nimmt an ausschweifenden Sexorgien teil – und entdeckt so unter dem Pflaster Amsterdams den Sumpf, in dem die Päderasten, Drogendealer, Zuhälter, Neonazis, Vergewaltiger, Erpresser und Mörderinnen waten. Allerdings fällt auf, wie sehr er sich treiben lässt, wie wenig aktiv er seine Lebensexperimente angeht, wie sehr ihm der türkische Dealer Ali, Gesù Porporà oder sein Kumpel Felix immer wieder auf die Sprünge helfen müssen. Da mag der ständig philosophierende und psychologisierende Albert Großes vorhaben und der Wirklichkeit „ihre Farbe und Form, ihren Geruch und Geschmack“ wiedergeben wollen, da stehen ihm aber andauernd die eigene Aufgeklärtheit und zahllose Erkenntnisse im Weg, und da schlägt die Wirklichkeit oft mit voller Wucht zurück.

So personalisieren sich in Albert zwei weitere Leitmotive der „Zahnlosen Zeit“: die Macht der Vergangenheit und damit eng verbunden, die Illusion eines freien Willens. Albert ist ein Held der Unfreiheit. Kaum ist er seinem Elternhaus entkommen, kaum beginnt er sein neues Leben, überfällt ihn die Einsicht, dass sich die Vergangenheit tief in sein Selbst eingeschrieben hat, die vergessenen und erinnerten Tage. Und er räsonniert weiter: „Die Loslösung vom Elternhaus ist nichts weiter als ein Metapher für die totale Freiheit, die uns niemals vergönnt sein wird. Jede Loslösung, jeder Freiheitsakt ist eine solche Metapher – eine Metapher für nichts.“ Das Leben ist für Albert ein Gefängnis, aus dem es zwischen Geburt und Tod kein Entkommen gibt. Nicht mal ein Selbstmord ist da ein Akt des freien Willens.

Nur gut, dass es die Poesie gibt, die Möglichkeit, auch die größte Lebensunbill noch in etwas Schönes „umzuschmieden“. Dafür hat Albert seinen Ghostwriter, den Kunststudenten und Schriftsteller Patrick Gossaert alias Patrizio Canaponi, mit dem er gleich bei ihrer ersten Begegnung einen Tauschhandel vereinbart: Ich liefere die Geschichten, du filterst sie mit dem „goldenen Sieb“ deines Stils, ich gebe mein Leben, du machst daraus Literatur.

War Patrizio Canaponi wiederum das Pseudonym, unter dem A. F. Th. van der Heijden seine ersten Gehversuche als Schriftsteller machte, so wirkt dieses höchstpersönliche Eindringen des Autors in sein Werk zunächst wie eine hübsche literarische Spielerei. Sie erlaubt es van der Heijden jedoch, auf einer höheren Ebene, ähnlich wie Albert, am Prinzip des Realismus in der Kunst zu zweifeln, das beispielsweise der Bildhauer Felix Boezaardt mit seinen lebendigen Gipsfiguren konsequent verfolgt. Als Felix eines Tages seinen Geliebten Thjum Schwantje eingipst, um das total realistische Kunstwerk zu schaffen, stirbt dieser. Van der Heijden dagegen würde nie auf die Idee kommen, Literatur müsse wie das Leben selbst sein. Lieber überzieht er selbst den tiefsten und widerwärtigsten Sumpf mit dem Blattgold Canaponis, um so zumindest etwas vom Zauber der „entkrusteten Wirklichkeit“ zum Vorschein zu bringen.

Dass ihm das auf der Langstrecke der beiden Bände nicht immer gelingt, versteht sich fast von selbst – ein Übermaß an Glanz und ausladend deftig-barocker Prosa zeitigt bekanntlich gewisse Abnutzungseffekte, und selbst dem engagiertesten Leser geht zuweilen die Puste aus, wenn wieder ein großformatiges Bild, wieder eine bedeutungsschwere Metapher um erhöhte Aufmerksamkeit bitten. Doch wo es um „alles“ geht, kann auf solche Zipperlein kaum Rücksicht genommen werden. Problematischer könnte sein, trotz eines von den Verlagen zusätzlich aufgelegten Registers („Gruppenporträt“), dass gerade dieser dritte Teil des Zyklus am wenigsten selbstständig gelesen werden kann, so sehr leuchtet er in alle Ecken der gesamten „Zahnlosen Zeit“. Er ist nicht nur das fehlende Bindeglied zwischen Prolog und „Anwalt der Hähne“, sondern gewissermaßen der Schlüssel zu allem. Trotzdem gibt es genügend Abschnitte, die sich als Solitäre lesen lassen, etwa die grandiose „Schneenacht im September“ oder das Schlusskapitel des zweiten Bandes, „Der Tag, an dem eine Maus aus meiner Zahnbürste fraß“. Gerade hier zeigt sich die große Kunst van der Heijdens, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, Beruhigung durch die Welt ziehen zu lassen und die Ereignisse eines Tages und einer Nacht in die Breite zu dehnen.

So braucht Albert am Ende, dem 23. Juli 1980, mehrere Anläufe, um wenigstens einmal wirklich aktiv zu werden: Er plant einen Anschlag auf den Neofaschisten Arend-Jan Baartscheer. Wie gewohnt gilt es viel abzuwägen: totschießen oder nur verletzen? Das Böse bekämpfen oder lieber doch keinen weiteren Märtyrer in die Welt zu setzen? Zumal es Albert weniger um eine politische Tat geht als darum, ins Gefängnis zu kommen und sich auf diesem Weg von den „Zärtlichkeiten seiner Heldin“ zu befreien, dem Heroin.

Denkt man dann daran, wie unprosaisch, brutal und präzise vor einem Jahr der niederländische Rechtspopulist Pim Fortyn Opfer eines Attentats wurde oder wie gänzlich unpoetisch, unphilosophisch und bedrückend das Leben Heroinsüchtiger in der Wirklichkeit ist, kann man van der Heijden nur auf die Schulter klopfen und dem Abschluss der „Zahnlosen Zeit“ attestieren: Experiment gelungen, Wirklichkeit entkrustet und dabei viel Schönes geschaffen.

A. F. Th. van der Heijden: „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“, „Unterm Pflaster der Sumpf“. Beide aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003, 680 u. 816 S., jeweils 29,80 €ĽA. F. Th. van der Heijden: „Gruppenporträt. Wer ist wer in der ‚Zahnlosen Zeit‘“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003, 160 S., 8 €