: Die Richterin ohne Robe
Schöffen verbinden das Gerichtswesen mit dem Volk. Ihre Stimme zählt wie die eines Richters. Susanne Schwertner wurde per Losverfahren ausgewählt. Für sie ist es der erste Besuch in einer Welt aus Paragrafen, Talaren und enttäuschten Hoffnungen
von JAN BRANDT
Es ist ein trüber Morgen, als Susanne Schwertner aufbricht, um zum ersten Mal in ihrem Leben ins Amtsgericht zu fahren. Sie ist spät dran, weil Elisa, ihre zweijährige Tochter, unbedingt T-Shirts mit in die Kita nehmen wollte und es Susanne Schwertner einige Mühe gekostet hat, Elisa von ihrem Vorhaben abzubringen. In der S-Bahn streicht sie ihre schwarzen, halblangen Haare aus dem Gesicht und rückt ihre Nickelbrille zurecht. Sie hasst es, unpünktlich zu sein. Die letzten Meter bis zum Gerichtsgebäude rennt sie. Als sie endlich neben dem Richter Platz nimmt, ist es zwanzig nach neun.
Bevor die Verhandlung beginnen kann, wird Susanne Schwertner vereidigt. Sie hebt die Hand und schwört, „die Pflicht eines ehrenamtlichen Richters getreu dem Grundgesetz zu erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen“.
In ihrer ersten Hauptverhandlung geht es um einen Jugendlichen, der schon in der Grundschule sitzen geblieben ist und keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter hat, es geht um wiederholtes Schwarzfahren, um kleinere Ladendiebstähle, um Drogenmissbrauch und Körperverletzung. Aber die Strafsache kommt nicht zum Urteil, weil kein Pflichtverteidiger erschienen ist. Der zweite Fall wird ebenfalls vertagt. Nun hat Susanne Schwertner bis zur nächsten Sitzung Zeit.
Vor einer Woche hat sie die Vorladung bekommen, per Fax. Seit Jahren hat sie sich auf diesen Tag vorbereitet, den „Leitfaden für die Schöffinnen in der Strafgerichtsbarkeit“ durchgelesen und sich mit ihrem Mann besprochen, der Jura studiert. Kurz bevor Elisa geboren wurde, war ihr mitgeteilt worden, dass man ihre Daten beim Einwohnermeldeamt erfasst und sie als Hilfsschöffin ausgewählt habe. Schwertner bat um Aufschub, bis ihre Tochter alt genug für die Kita ist. „Gut, dass ich nicht vergessen wurde“, sagt sie, „das Schöffenamt ist ein Dienst an der Gesellschaft, das ist schon in Ordnung, wenn man das macht, vor allem, weil es einen aus seinem normalen Alltag herausreißt.“ Susanne Schwertner ist 29 Jahre alt und Assistentin in einer nuklearmedizinischen Praxis. Seit zwei Jahren, seit Elisa geboren wurde, arbeitet sie nur noch dreißig Stunden pro Woche. Dreißig Stunden, in denen sie sich überwiegend mit alten Menschen beschäftigt, ihnen Radiopharmaka spritzt, Kameras einstellt, die Körper positioniert und Bilder macht vom Gehirn oder der Schilddrüse.
Um elf Uhr dreißig, im Saal B 237, fühlt sie sich, als ob Bilder von ihr gemacht werden würden. Dabei sitzt sie nicht auf der Anklagebank, sondern auf dem Podium neben dem Richter und ihrem Kollegen. Norbert Büchholz, der zweite Schöffe, kennt das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber es macht ihm nichts mehr aus. Während der Befragung des 18-jährigen Angeklagten faltet er die Hände vor dem Gesicht und nickt hin und wieder wie jemand, der weiß, wie schnell man als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten kann. In seiner Freizeit engagiert er sich in der Jugendarbeit.
Büchholz ist – wie viele Schöffen – im öffentlichen Dienst tätig. Die Zeit im Gericht wird ihm als Arbeitszeit angerechnet. In dieser Wahlperiode, die noch bis 2004 dauert, hat er schon achtzehn Verhandlungen besucht. Die Erfahrung habe ihn sicherer gemacht, sagt er, es falle ihm leichter, seine Meinung zu äußern und Fragen zu stellen. Aber die Spannung vor jedem Termin bleibe: „Man weiß ja vorher nie, um was es geht.“
In diesem Fall geht es um Dennis T. Ihm wird vorgeworfen, im Mai 2002 vor dem Pokalendspiel zwischen Schalke 04 und Bayer Leverkusen bei einer Demonstration auf dem Breitscheidplatz eine Flasche in die Menge geworfen zu haben. Es ist eine traurige Geschichte von Verzweiflung und Gewalt, von der Sehnsucht nach geordneten Familienverhältnissen, von Armut, Arbeitslosigkeit und Gruppenzwang.
Als Schöffen sind Schwertner und Büchholz dem Richter gleichgestellt, ihre Stimme ist ebenso viel wert wie seine, für eine Stunde sind sie keine medizinisch-technischen Assistenten oder Umsatzsteuersonderprüfer mehr, sondern selbst Richter. Auch wenn die 3.320 am Berliner Amtsgericht registrierten Schöffen keine Robe tragen, müssen sie am Ende der Verhandlung über Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld, Bestrafung und Freispruch entscheiden.
Der Angeklagte ist geständig, und das Urteil fällt einstimmig und milde aus. Dennis T. muss zehn Stunden gemeinnützige Arbeit leisten und einen Großen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren, damit er, wie der Richter sagt, jemanden medizinisch versorgen kann, „der von einer Flasche am Kopf getroffen wird“. Nach der Verhandlung geht Norbert Büchholz zurück ins Büro, für Susanne Schwertner aber ist der Tag gelaufen. Sie ist müde und sagt, sie habe genug gehört von „kaputten Existenzen“, „hoffnungslosen Fällen“ und „Lebenswegen, die nirgendwo hinführen“.
„Na ja“, sagt sie auf dem Weg zur S-Bahn, „vielleicht lebt man selbst zu spießig. Besonders, wenn man aus so einer richtigen Stino-Familie kommt wie ich.“ Stino, das steht für stinknormal. So nennt Susanne Schwertner Kinder, deren Eltern noch zusammenleben und berufstätig sind – die heile Welt, von der in den Gerichtssälen nichts zu spüren ist. „Ich muss unvoreingenommen bleiben“, sagt sie noch, bevor sie in die S-Bahn steigt, um ihre Tochter von der Kita abzuholen.