: Die kleine Welt
Im Innern
Sie wünschte sich, das rote Haus gegenüber würde von großen Filmscheinwerfern angestrahlt. So als sähe es bei Nacht aus wie am Tage. Sie hörte die Sirenen auf der Straße. Früher, als sie erst kurz in der Stadt wohnte, hörten sich die Sirenen noch näher an. Mit ihnen ging eine ganze Welt auf. Ein Draußen kam herein.
Jetzt sah sie den kleinen Tropfen Rotwein an der Flasche langsam entlanglaufen und die kleine Welt entstand im Innern. Sie hatte heute zweimal laut geflucht. Wegen des Regens und wegen der Bremse, die klemmte und ihr jedes Mal, wenn das verbogene Vorderrad sich einmal gedreht hatte, die Geschwindigkeit nahm. Sie fluchte nicht oft laut. Ihre Stimme kam ihr dabei nicht echt vor, und es machte ja auch nichts besser. Am Morgen hatte sie eine alte Frau gesehen mit spitzem Mund und schwarzem Mantel. „Das ist doch Re“, hatte sie gedacht und war sich dann nicht sicher. Aber sie hatte sie ja auch schon fünf Jahre nicht gesehen. Sie war noch mal umgedreht, hatte die Frau verfolgt bis in das Büro der Krankenkasse, wo sich die Frau auf einen Stuhl gesetzt hatte, um zu warten. Wenn man sich schon zufällig trifft in so einer großen Stadt, dachte sie, dann soll das wohl so sein. Aber hinter den Brillengläsern sahen die Augen der Frau so groß aus und die Lippen so spitz. „Bist du es, Re?“, so was fragt man doch seine zweite Mutter nicht.
Jetzt saß sie hier auf dem kalten Ledersofa. Der Junge, der gerade gefleht hatte, noch nicht zu gehen, noch nicht alles aufzugeben, schlief nun auf ihrem Schoß. „Woher hast du bloß deine Härte?“, hatte er vorher gefragt. Und jetzt hörte sie das Gluckern seines Bauches. „Ich liebe dich“, sagte er später, und sie glaubte ihm. „Man sieht sich. Hoffe ich“, sagte er und zog die Tür nicht richtig zu. LAURA EWERT