: berliner szenen Ritual am Vormittag
Gegen die Konfusion
Der Kopf fühlte sich noch bewölkt an. Sie stand auf, öffnete das Fenster, schaute auf die Straßenkreuzung hinunter und die zwei Männer, die vor dem Zeitungsladen Bier tranken. Die Sonne schien und wurde von den Fenstern der Häuser gegenüber ins Zimmer geworfen. Sie stand auf dem alten Teppich vor dem Bett und begann mit ihren Übungen. Eine Folge verschiedener Figuren aus Yoga und Qigong, eine vierzigminütige Gymnastik, mit der sie jeden neuen Tag zu begrüßen pflegte, seitdem ihre ABM auf den Friedhöfen geendet hatte.
Die Übungen waren ein Ritual, das ihren Tagen ein Gerüst geben sollte. Ein anderes waren die Morgenseiten, die sie schrieb, wenn sie allein war. Schreib einfach alles auf, was dir so einfällt, hatte N. gesagt. Oft nahm sie auch das Tarot und zog eine Tageskarte oder stellte sich vor den Spiegel zur Affirmation. Komisch, sich selber so anzugucken, als sei das jemand, mit dem man sich befreunden wollte, und dabei zu sagen, man sei okay.
In seinem Zimmer gab es keinen Spiegel, und anfangs hatte sie sich gescheut, ihre Übungen zu machen, wenn sie bei ihm übernachtete, ihn einmal sogar gefragt, ob er nicht fände, dass das komisch aussehen würde. Wenn sie zum Beispiel auf dem Rücken liegend ihre Hände und Füße ausschüttelte. Sieht doch komisch aus, oder? – Nö.
Wenn sie Sonntag abends Fernsehen guckten, hatte sie manchmal das Gefühl, ein Hund mit nasser Schnauze liege neben ihr. Seine ständige Konfusion machte sie nervös. Und als er sagte, er sähe es nicht ein, nicht mal am Abend einen Joint, „nur so zur Entspannung“, zu rauchen, schwieg sie nur. Sie dachte daran, dass sie sich nie gestritten hatten, während der Rauch aus dem Fenster flog. DETLEF KUHLBRODT