: Ein Denkmal für Giscard
Bei der Diskussion um Subsidiarität und die Rolle der nationalen Parlamente geht es eher um Symbole als um Reformen
von CHRISTIAN RATH
Valéry Giscard d'Estaing hatte eine Idee und will sich nicht mehr von ihr trennen. In der neuen EU-Verfassung soll es einen „Kongress der Völker Europas“ geben, schlug er vor, in dem sich bis zu 700 Volksvertreter als „Keimzelle einer europäischen Öffentlichkeit“ versammeln. Dieser Kongress soll sich zu einem Drittel aus Europaabgeordneten und zu zwei Dritteln aus Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammensetzen. Möglicherweise soll diese Versammlung eines Tages sogar den EU-Präsidenten wählen.
Natürlich hat dieser Vorschlag Gewicht, denn Giscard leitet den Konvent, der bis zum Sommer einen Entwurf für die zukünftige Verfassung Europas vorlegen soll. Der von Giscard vorgeschlagene Abgeordnetenkongress könnte gewissen Charme haben – wenn er tatsächlich für einen wichtigen Wahlakt zusammentreten sollte. Es wäre immerhin ein Signal für eine langfristige Parlamentarisierung der EU, wenn ein künftiger EU-Präsident von Parlamentariern gewählt würde und nicht von Regierungsvertretern. Allerdings sind Giscards Versuche, einen mächtigen EU-Präsidenten zu installieren, der den zurzeit halbjährlich wechselnden Vorsitz ablöst, ziemlich umstritten. Vor allem die kleinen Staaten fürchten um ihren europäischen Einfluss. Ihnen wäre ein Präsident mit starkem demokratischen Mandat erst recht ein Dorn im Auge.
Deshalb ist die jüngste Version von Giscards Kongressidee kaum noch der Rede wert. Einmal im Jahr solle die Abgeordnetenversammlung zusammentreten und sich eine Rede zur Lage der EU anhören. Viel Zeremonie für nichts, rügten Kritiker. In den bisherigen Debatten des Konvents fand der Vorschlag auch fast nur Ablehnung. Man brauche keine neuen Gremien, schimpfte etwa der frühere Präsident der EU-Kommission, Jacques Santer, sondern eine Vereinfachung der Strukturen. Inzwischen liegen rund 40 Änderungsvorschläge zu Giscards Kongressidee auf dem Tisch. Fast alle fordern eine ersatzlose Streichung des Gremiums.
Die Abgeordneten nationaler Parlamente will der Konvent dagegen auf eine andere Weise einbeziehen. Sie sollen künftig als eine Art „Frühwarnsystem“ über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips wachen. Dieses Prinzip besagt, dass die EU nur tätig werden soll, wenn ein Ziel auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend und auf EU-Ebene besser erreicht werden kann. Große Bedeutung hat die Subsidiarität vor allem in Sonntagsreden, weil man so hofft, die Ängste vor einem europäischen Superstaat zu zerstreuen. Letztlich werden damit möglichst bürgernahe Entscheidungen gefordert.
In der Praxis ist das Subsidiaritätsprinzip aber nur schwer anzuwenden, denn manche Mitgliedstaaten sind eben deutlich weniger leistungsfähig als andere. Und einheitliche Rahmenbedingungen im Binnenmarkt können ohnehin nur auf EU-Ebene wirkungsvoll gesichert werden.
Dennoch wird das Subsidiaritätsprinzip künftig wohl besser geschützt werden. Nationale Parlamente sollen binnen sechs Wochen nach Vorlage eines neuen Kommissionsvorschlags eine eigene Stellungnahme vorlegen können, um vor einer Gefährdung der Subsidiarität zu warnen. Schreibt mehr als ein Drittel aller nationalen Parlamente solche Briefe, so muss die Kommission ihren Vorschlag noch einmal überdenken. Das ist zwar keine sehr Furcht einflößende Sanktion, aber wäre doch ein bedeutsames politisches Signal. Die Parlamente der Mitgliedstaaten gelten als geeignete Wächter, weil sie konkret Zuständigkeiten verlieren, wenn die EU neue Aufgaben übernimmt.
Im Streitfall muss wie schon bisher der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheiden, ob das Subsidiaritätsprinzip verletzt ist. Künftig sollen allerdings auch die nationalen Parlamente einen Rechtsstreit auslösen können. Sie erhalten zwar kein echtes Klagerecht, aber sie könnten die Bundesregierung „ersuchen“, beim EuGH zu klagen. In Deutschland hätte man es gerne gesehen, dass auch die Bundesländer Subsidiaritätsklagen anstrengen können.
Doch dafür zeichnet sich im Konvent keine Mehrheit ab. Für die Sonderprobleme des deutschen Föderalismus hat man dort nur beschränkt Verständnis. Immerhin sollen auch die Landtage eine Klage einleiten können und neben dem Bundestag möglicherweise auch der Bundesrat. Da bei solchen Klagen am Ende aber wenig herauskommen wird, ist die aufwändige Diskussion ums Klagerecht etwas übertrieben. Auch der Konvent hat darauf hingewiesen, dass das Subsidiaritätsprinzip eher ein politisches als ein juristisches Prinzip ist.
Die Detailregelungen zur Subsidiarität sollen nicht Teil der neuen Verfassung werden, sondern wie bisher in einem separaten Protokoll festgehalten werden. Das Gleiche gilt für die Rolle der nationalen Parlamente. Hier soll unter anderem der Informationsfluss etwas verbessert werden, wobei der Bundestag laut Grundgesetz auch jetzt schon „umfassend und frühzeitig“ über EU-Vorhaben zu informieren ist.
Die EU lässt weiter offen, ob die nationalen Parlamente verbindliche Vorgaben für das Abstimmungsverhalten eines Ministers im Rat machen können. Derartiges könnte wohl auch nur in den nationalen Verfassungen geregelt werden. Im Grundgesetz heißt es seit 1993, die Bundesregierung muss Stellungnahmen des Bundestags „berücksichtigen“. In aller Regel unterstützt dabei die Regierungsmehrheit im Parlament die Position „ihrer“ Bundesregierung. Große Divergenzen sind hier auch in Zukunft nicht zu erwarten.
Den größten Fortschritt für die nationalen Parlamente könnte eine Regelung über den Weg von EU-Verfassungsänderungen bringen. Die bisherigen EU-Verträge von Rom, Maastricht, Amsterdam oder Nizza wurden stets auf Regierungskonferenzen ausgearbeitet. Im jetzigen Konvent arbeiten aber auch Abgeordnete des Europaparlaments und der nationalen Parlamente mit. Im Auswärtigen Amt hofft man nun, dass sich die Konventsmethode auch für künftige Verfassungsänderungen durchsetzen lässt.
Um die Chancen dieses Vorschlags zu erhöhen, haben Spötter schon angeregt, man müsse den Konvent einfach in Kongress umbenennen, dann werde sich Valéry Giscard d'Estaing auf jeden Fall mit ganzer Kraft dafür einsetzen. Hauptsache, es gibt in der neuen Verfassung irgendeine Institution, die die Nachwelt mit ihm in Verbindung bringt.