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: Sie dreht sich doch: Ausschweifender Stadtführer nicht nur für Ringbahnfahrer

Die Seele der Stadt mit der S-Bahn suchend

Sich im Kreis zu drehen gilt gemeinhin nicht als besonders erstrebenswert. So mancher Berliner aber kann gar nicht genug von dem Taumel bekommen. Seit letztem Jahr kann man sich nicht mehr nur symbolisch um die eigene Achse drehen: Denn die „Strecke ohne Ende“ ist wieder in Betrieb. Weil der S-Bahn-Ring für die Autoren Michael Bienert und Ralph Hoppe, beide seit Jahren bei StattReisen als Stadtbilderklärer tätig, exemplarisch die Geschichte der Stadt „erfahrbar“ macht, haben sie ein über 300-seitiges Ringbahnbuch geschrieben.

„Wo steigen wir aus? Wo fangen wir an? Ein Ring hat weder Anfang noch Ende.“ So strukturierten die Autoren ihr Ring-Bahn-Buch anhand der 31 Bahnhöfe der seit Mitte des 19. Jahrhunderts geplanten Strecke. Den Eisenbahnfans Bienert und Hoppe scheint von der Rotation um die Kreisstadt Berlin selbst ein wenig schwindelig geworden zu sein, sodass sie sich irgendwann für „literarische Reporter“ hielten. Es geht ihnen nicht nur um die Geschichte der Ringbahn seit 1871, sondern um viel Interessantes, aber auch Abseitiges entlang der Gleise. Die Flaneure auf Rädern spielen Feuilletonisten: „In Verkehr und Technik glaubte die Berliner Kulturkritik seit der Gründerzeit die Seele der Stadt zu erkennen. Das kommt einem plausibel vor, wenn man lange um die Mitte der Stadt kreist und keine andere Seele findet.“

Warum heißt der Bahnhof Jungfernheide, wie er heißt? Weil Johann I. und Otto IV. 1239 ein Benediktinerinnenkloster bei Spandau gründeten und die Erinnerung daran im Namen „Jungfernheide“ behielt. Und da man vom Bahnhof Jungfernheide schnell von hinten in den Charlottenburger Schlosspark spazieren kann, sind wir auch schon im Belvedere, „einst ein Teehaus im Park, jetzt ein kleines Museum mit Prachtstücken aus der Königlichen Porzellanmanufaktur“ und Fritzens „intimer Beziehung zur viel geschmähten Wilhelmine Encke“. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Bienert und Hoppe als Stadtführer Berlintouristen mit Fakten und Geschichtchen überhäufen.

Interessant sind die Ausführungen zum S-Bahn-Streik 1980 und dem vorausgegangenen irren Westberliner S-Bahn-Boykott gegen die DDR-Reichs-S-Bahn. Oder Uwe Johnsons einsamer Kampf gegen den Boykott mit einem Zeit-Artikel von 1964 – danach wurde er von anonymen Anrufern bedroht. Natürlich verachten die Autoren, wie alle guten Menschen und Eisenbahnfreunde, den bösen Mehdorn, von Stadtplanern verschandelte Bahnhöfe, die elende Stadtautobahn, die dem S-Bahn-Ring im Westen so nah auf die Pelle rückt, dass er fast erdrückt wird, und all die Betonkästen, die mit Unterstützung der DB Immobilienentwickler den Bahnhöfen mit einer „Ringstadt des Konsums“ zusetzen. Gesundbrunnen-Center, Schönhauser Allee Arcaden und Treptower Park Kaufdings sind schon schlimm genug, der Horror schlechthin aber sind die beiden Ring-Center mit ihren elenden Parkdecks für Autos an der Frankfurter Allee. Natürlich haben Bienert und Hoppe Recht, aber lachen muss man dennoch über ihre kulturpessimistischen Anklagen: „Ring Center 1 hätte einen Sonderpreis verdient für die besondere Rücksichtslosigkeit gegenüber der Nachbarschaft und dem alten Backstein-Empfangsgebäude.“ Ein etwas überdrehtes, aber faktenreiches Buch für Umrundungen unserer Kreisstadt.

ANDREAS BECKER

Michael Bienert, Ralph Hoppe: „Eine Stunde Stadt. Berliner Ringbahn-Reise“. Berlin Edition des Quintessenz Verlags, 2002, 320 S., 19,90 €