: Ein Reförmchen
VON THOMAS STRAUBHAAR
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wer das Gute sieht, wird erkennen, in welch atemberaubendem Tempo die Deutschen in den letzten zwölf Monaten begriffen haben, dass sich einiges ändern muss, damit vieles bleiben kann, wie es ist.
Niemand mehr wird leugnen können, dass seit der Kanzler-Rede das Wort „Reform“ zum meist gebrauchten Wort des Jahres geworden ist. Keine ernsthafte Rede, keine Talkshow, die nicht die dringende Reformnotwendigkeit Deutschlands einfordert.
Wer dem Kanzler schlecht will, der wird sagen, wie groß der Berg ist und wie klein die Maus wurde, die er geboren hat. Ein Reförmchen kam raus, zu schwach, um die Fesseln zu sprengen, die Deutschland zurückbinden. Zu wenig, um die strukturellen Probleme wirklich zu lösen, die letztlich zu weit über vier Millionen Arbeitslosen, ausufernden staatlichen Schuldenbergen und nicht nachhaltig finanzierten Sozialsystemen führen.
Was erkennt, wer versucht, Deutschland von außen zu sehen? Er stellt fest, dass Deutschland noch nicht so richtig im neuen anderen Land angekommen ist. Er staunt, wie viel Energie verschwendet wird, um Vergangenes festzuhalten, Unvermeidlichem auszuweichen und Veränderungen zu blockieren. Wieso machen es sich die Menschen in diesem Land in ohnehin schon schwierigen Zeiten noch einmal schwerer? Wo könnte Deutschland stehen, würden die Energien, die zur Verteidigung des Bestehenden verschwendet werden, zum Aufbruch alter und zum Aufbau neuer zeitgerechter Strukturen genutzt?
Thomas Straubhaar, Schweizer, ist Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA)