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Archiv-Artikel

Der Stumpf treibt kräftig Zweige

Es scheint wie eine biblische Verheißung: Ein beinahe abgehackter Baum treibt wieder kräftig Zweige„Merken Sie nicht, dass wir Sie nicht haben wollen?“, rief einer ins Telefon. Isaacsohn lief es kalt über den Rücken

AUS LEIPZIG THOMAS GERLACH

Rolf Isaacsohn bekommt Anweisungen zugerufen: Er möge das Ariowitsch-Heim nun aufschließen, er möge nun dort und dort hinschauen, dort und dort hingehen. Der 70-jährige Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig macht das scheinbar ungerührt, weder verdrießlich noch begeistert, er blickt ernst in die Kameras, er geht am Haus von rechts nach links, stellt sich vor das Baustellenschild, geht zur Tür hinauf, greift zum Schlüssel. Er macht das ohne Murren. Es ist, wie es ist. Bauen kann schwer sein. Nichtbauen ist es noch mehr.

Was soll man machen, wenn fünf Nachbarn gegen die Baugenehmigung für das neue Gemeindezentrum klagen? Was soll man sagen, wenn ein Kläger aus München schreibt, es sei ihm als Wohneigentümer nicht zuzumuten, „die Wohnung zur Wahrung meiner Vermögensinteressen an eine rechtsradikale Wohngemeinschaft zu vermieten oder an einen Islamisten zu verkaufen“? Wenn ein anderer klagt, bei der gegenwärtigen israelischen Politik sei kein jüdisches Gebäude vor Anschlägen sicher? Wenn ein weiterer argwöhnt, sein Baumbestand sei durch den Einbau eines Versammlungsraumes im Kellergeschoss gefährdet?

Rolf Isaacsohn redet zwar in Mikrofone, doch eigentlich ist er stumm. Was soll man auch sagen, wenn man als Nachbar nicht erwünscht ist? Vor anderthalb Jahren wollte die Gemeinde den ersten Spatenstich feiern, aber das Ariowitsch-Heim, das ehemalige jüdische Altersheim, ist immer noch kein Begegnungszentrum, es ist ein alter, leer stehender Bau mit Moos auf den Stufen. Vor einigen Jahren hat die Stadt das Haus als Altersheim aufgegeben – seitdem ist es ein grauer Klotz im sanierten Waldstraßenviertel, dem schönsten Leipziger Gründerzeitquartier. Das sagt Isaacsohn dann doch noch ins Mikrofon: „Die wahren Gründe sind zum Teil Antisemitismus.“

1931 wurde das von Louise Ariowitsch gestiftete Heim eröffnet. Ihr Mann Julius Ariowitsch kam aus dem weißrussischen Slonim nach Sachsen und galt um 1900 als König vom Leipziger Brühl, dem Zentrum des deutschen Pelzhandels. Allein im Waldstraßenviertel gab es fünf Synagogen und Beträume, in ganz Leipzig waren es siebzehn für über 13.000 Juden – jeder fünfte wohnte rings um die Waldstraße. Es gab ein Theater, ein Krankenhaus, eine Hebräischschule, ein Sozialamt, Sportvereine, eine Hochschule, einen Kindergarten und einen Hort. In diesen Hort wurde auch Rolf Isaacsohn geschickt, um der Enge der „Judenhäuser“ zu entgehen, in denen Juden seit Kriegsbeginn leben mussten.

„Da oben haben wir nach Wandmalereien gesucht. Aber es waren nur Wasserflecken.“ Rolf Isaacsohn ist unter den Augen der Kamera ins Haus gegangen, blickt zur Decke und dann aus dem Fenster hinüber zum Nachbarhaus. Der Notar, der dort seine Kanzlei führt, ist einer der Kläger. Es soll um die Platane gehen, die zwischen beiden Häusern steht.

Rolf Isaacsohn geht über die Treppe ins Obergeschoss. Im September 1942 wurden die letzten 87 Insassen nach Theresienstadt deportiert, manche wurden auf Tragen weggebracht. „Die mauschelnde Rasse kann sich heute nicht mehr so breit machen wie früher“ schrieb die Leipziger Tageszeitung damals. Nach der Deportation richtete sich im Ariowitsch-Heim die Gestapo ein.

Josif Besnosov steht abseits und raucht. Es hat etwas Entspanntes. Wie Julius Ariowitsch stammt er aus Weißrussland. 1990 ist er aus Minsk gekommen, heute ist Besnosov der Geschäftsführer der Gemeinde. Als er nach Leipzig kam, waren in der Gemeinde noch drei Dutzend Mitglieder, heute sind es über tausend. Es scheint wie eine biblische Verheißung: Ein beinahe abgehackter Baum treibt kräftig Zweige – die Leipziger Gemeinde ist unter den drei sächsischen am schnellsten gewachsen. Das alte Gemeindehaus konnte nicht mitwachsen. Nun ist es viel zu klein.

Die ehemalige „Brodyer Synagoge“ in der Keilstraße, von Kaufleuten aus dem galizischen Brody als Treffpunkt errichtet, wenn sie zur Messe in der Stadt waren, hat als einzige der dreizehn Synagogen die Nazis überstanden. Sie mag noch ausreichen. Aber wo soll man die vielen Zuwanderer aus dem Osten unterbringen? Man kann ja schließlich nicht auf der Straße feiern, kochen, tanzen, musizieren, Schach spielen, wissenschaftliche Dispute führen, Zeitungen lesen, Deutsch lernen und was sie sonst noch alles machen.

Josif Besnosov folgt Rolf Isaacsohn und trägt ein sperrhölzernes „JA“ groß wie ein Schild vor sich her. Nachbarn haben Unterschriften gesammelt, Nachbarn, die sich freuen, dass das jüdische Leben zurückkehrt. Auf den Zetteln stand: „Leider klagen einzelne Anwohner gegen dieses Bauvorhaben offenbar mit dem Ziel, das Begegnungszentrum zu verhindern. Wir jedoch sehen Leipzig als eine weltoffene Stadt, und deshalb: Wir sagen JA zum jüdischen Begegnungszentrum.“ Über tausend haben ihre Unterschrift darunter gesetzt. Neulich wurde die Liste mitsamt dem JA der Gemeinde übergeben.

Rolf Isaacsohn kommt die Treppe herunter. Das Ariowitsch-Heim soll sich mit neuem jüdischen Leben füllen. Isaacsohn scheint der ergraute Stammvater des Neuen zu sein, schweigend trägt er diese Last. Der Notar ist für eine Erklärung nicht zu erreichen. Er mache Beurkundungen, heißt es, außerdem sei es eine Privatangelegenheit.

Rolf Isaacsohn verschließt mit ernster Miene das Heim. Im Februar 1945 wurde er mit dem letzten Transport aus Leipzig nach Theresienstadt deportiert, da war er elf. Auch Josif Besnosov nimmt das hölzerne JA und geht.

Am Abend hat ein Bürgerverein zum Gespräch in die Lessing-Schule geladen: „Das neue Jüdische Gemeindezentrum – Anlass zur Sorge oder neue Chance?“ Die Aula ist brechend voll, Rolf Isaacsohn steht vorn und redet. Nein, es werde höchstens einen Gottesdienst im Jahr geben, und was den Verkehr betreffe: Die meisten in der Gemeinde seien alt und erhielten Sozialhilfe, da werde kaum einer mit dem Auto zum Ariowitsch-Heim fahren. Es werde auch keine Großküche gebaut. Kurzum: es werde kein Remmidemmi geben, wie Anwohner vielleicht befürchteten. Isaacsohn setzt sich und greift zum Wasserglas.

Danach kommen haufenweise Bekenntnisse, und es klingt manchmal, als würde man Isaacsohn Kleinmut vorwerfen, weil er die Gegner eher leise beschwichtigt, statt lauthals sein Recht einzufordern. Rolf Isaacsohn hört schweigend zu. Was soll man sagen? Da will ein Eigentümer bauen – und dreihundert Menschen erscheinen, schütten ihr Herz aus, vor der Tür steht Bereitschaftspolizei, Fernsehen ist da, vom Rathaus kommt ein Gesandter, Parteien schicken Parteisoldaten, die Solidaritätsadressen abgeben, ein Flugblatt kursiert, ruft zu einer Kundgebung auf, und mittendrin sitzt ein Mann von 70 Jahren, der schnell eine Tablette schluckt und dem man eigentlich einen wohlverdienten Ruhestand gönnt. Alles wegen eines Hauses. Juden bauen.

Die einen reden, die anderen hören zu. Josif Besnosov etwa. Er steht schräg hinter Isaacsohn am Fenster und lächelt, wenn einer aufsteht und wie jetzt eine Mahnwache fordert. In der Hand hält er das große stumme JA, als wolle er es noch heute in den Leipziger Himmel hängen.

Etwas später spricht Isaacsohn noch einmal und betont, dass er nicht kleinmütig, sondern nur realistisch sei, er erzählt von einem Anruf: „Merken Sie nicht, dass wir Sie nicht haben wollen?“, habe einer durchs Telefon gerufen. „Da ist es mir kalt den Rücken runtergelaufen.“ Der Abend sei gut verlaufen, heißt es später, die Kläger seien isoliert.

Am nächsten Morgen ist Rolf Isaacsohn nicht zu sprechen. Sein Büro im zu klein gewordenen Gemeindehaus in der Löhrstraße bleibt leer. Die ganze Sache setze ihm zu, sagt die Sekretärin. „Auch die Vorwürfe gestern Abend.“ Vorwürfe? „Na, dass er sich verstecken würde mit dem Projekt.“ Die Gemeinde hätte früher an die Öffentlichkeit gehen müssen, sagen viele. Aber mitten in der Olympiabewerbung? Als „Spielverderber“?

Als Isaacsohn aus Theresienstadt zurückkam, war er zwölf, und sein Leben in der DDR begann. Isaacsohn wurde Elektroinstallateur. Die wenigen Juden waren für die SED Statisten im Passionsspiel über den antifaschistischen Widerstand. Wer zu eigenständig agierte, wurde schnell des Zionismus verdächtigt. Wer stillhielt wurde dekoriert, wie Aron Adlerstein, Isaacsohns Vorgänger, dem Erich Honecker zum 50. Jahrestag der Pogromnacht den Vaterländischen Verdienstorden verlieh. Als wäre das Überleben an sich ein Verdienst. Die Gemeinde stand vor ihrem Ende. Zwei Jahre später trifft Josif Besnosov ein. Und mit ihm viele Juden aus dem zerfallenden Sowjetreich.

Auch Efim Kerzhner. Er kam 1995. Der 56-jährige Maler, der aus Kiew stammt, arbeitet in der Bibliothek des Gemeindehauses in der Löhrstraße. „Wir haben einen Platz gefunden, wo wir nach unseren Traditionen leben können“, sagt er. „Und die Jungen – die waren in Russland nicht zu sehen! – aber hier in der Freiheit unterrichten sie plötzlich die Alten in jüdischem Leben und Tradition.“ Die Jungen lehren die Alten, wo hat man so was schon gesehen? „Ein Wunder!“, ruft Kerzhner. „Wir bemühen uns, die Leipziger Tradition fortzusetzen!“

Gott sei dank, alles gehe „normalno“, sagt er auf Russisch. Normalno kann außer Weltuntergang zwar fast alles bedeuten, aber Kerzhner wirkt zufrieden. Auf dem Flur warten Frauen und drücken ihre Taschen an die Brust. Sie wollen Bücher, einen Rat oder einfach nur Gesellschaft. „Das ist hier ihr zweites Zuhause“, sagt Efim Kerzhner. Ihr drittes ist Leipzig. Überall wird gebaut. Die Gemeinde will jetzt anfangen. Die Eilanträge der Kläger wurden am Freitag zurückgewiesen. Endgültig entschieden ist die Sache noch nicht. Aber es ist eine gute Nachricht. Bauen ist schwer, Nicht bauen noch viel mehr.