: Der Kandidat herzt keine Kinder
AUS SAN SALVADOR TONI KEPPELER
„Wo ist der Arzt?“, fragt Eugenio Chicas aufgeregt. „Hat irgendjemand den Arzt gesehen?“ Chicas ist Wahlkampfmanager der zur Partei gewordenen ehemaligen Guerilla der „Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí“ (FMLN) und unter anderem dafür verantwortlich, dass sich in der Nähe des Präsidentschaftskandidaten stets ein Arzt befindet. Denn der ist 73 Jahre alt und vom Leben gezeichnet.
Ein halbes Jahrhundert lebte er im Untergrund, zwölf Jahre kämpfte er als Guerillero. Er hat mehrere Herzoperationen hinter sich; für den Wahlkampf ließ er sich von Fidel Castros Medizinern in Havanna fit machen. Seine Chancen, am Sonntag die Stichwahl zu erreichen und diese ein paar Wochen später zu gewinnen, stehen nicht schlecht.
Schafik Handal wäre dann Lateinamerikas erster frei gewählter Kommunist im Präsidentenamt – ausgerechnet in El Salvador, jenem zentralamerikanischen Land, das in den 70er- und 80er-Jahren ein Synonym für blutige Repression, Menschenrechtsverletzungen und rechte Todesschwadronen war.
Handal wird in Zacamil erwartet, einem Arbeitervorort der Hauptstadt San Salvador: Mietskasernen im Plattenbaustil, die Wände schwarz vor Nässe und Schimmel und so dünn, dass man in den winzigen Wohnungen das Radioprogramm der Nachbarn mit verfolgen kann. Zwischen den Häusern drängen sich Marktfrauen in billigen Plastikkleidern, grell geschminkte Arbeiterinnen aus der Textilfabrik, Taxifahrer mit Motorenöl an den Händen und jede Menge Arbeitslose.
Geballte Fäuste werden in den Nachthimmel gereckt, rote Fahnen wehen, man singt revolutionäre Lieder: „Ein einig Volk wird nie besiegt!“ Darüber lächelt, an Girlanden aufgehängt, Schafik Handal hundertfach vom Wahlkampfplakat. Ein lebenslustiger Opa mit weißem Bart und dünnem, pomadigem Haar. Er wird ein Heimspiel haben. Der Vorort Zacamil ist fest in der Hand der FMLN.
Im richtigen Leben ist Handal nicht so freundlich wie auf dem Plakat. Als er zur Bühne geht, sieht er müde aus und abgespannt. Die tiefen Falten unter den Augen und um den Mund machen sein Gesicht mürrisch. Salvadorianische Journalisten sagen, er sei immer wütend. Er könne sogar die Hand erheben gegen einen Reporter, wenn ihm dieser zu aufdringlich erscheint und seine Frage zu dumm.
Handal ist Sohn palästinensischer Einwanderer, die sich in den 20er-Jahren in der Provinzstadt Usulután niederließen und ein Warenhaus eröffneten. Schafik, das älteste von sechs Kindern, litt in seiner Kindheit keine Not. „Ich und mein Bruder, wir waren die Einzigen in der Straße, die einen Fußball besaßen“, erinnert er sich. Nach der Grundschule wurde er in die Hauptstadt San Salvador in ein Internat geschickt.
Dort kam er als 14-Jähriger zum ersten Mal mit Politik in Berührung. Arbeiter und Studenten hatten 1944 zu einem Generalstreik gegen den Militärdiktator Maximiliano Hernández Martínez aufgerufen. „Ein paar Studenten kamen zu uns in die Schule und hielten eine kämpferische Rede“, erzählt Schafik Handal. „Sie endete mit dem Satz: ‚Wir werden dafür sorgen, dass sich in diesem Land nichts mehr bewegt, bis der Tyrann stürzt.‘ Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.“
Noch viel mehr war der junge Handal beeindruckt, als der Diktator ein paar Tage später tatsächlich stürzte. „Wir haben das nicht für möglich gehalten.“ Seitdem ist er davon überzeugt, dass ein Volk alles, was es will, erreichen kann, wenn es sich nur organisiert.
Als 20-Jähriger trat Handal in die Kommunistische Partei ein, die schon damals verfolgt wurde und nur im Geheimen agierte. Die nächsten 30 Jahre seines Lebens verbrachte er im Untergrund, im Exil oder im Gefängnis. „Zwei- oder dreimal glaubten wir, dass er tot sei. Wir warteten nur darauf, dass Soldaten vorbeikämen und uns sagten, wo seine Leiche liegt“, erinnert sich sein Sohn Jorge.
Damals glaubte Handal, dass die Kommunisten die Macht an der Urne erringen müssten. Die Mutterpartei in Moskau hatte sich von der Weltrevolution verabschiedet und der Tochterpartei in El Salvador befohlen: keine Waffen, kein Bürgerkrieg, kein zweites Kuba. Handal, seit 1959 im Zentralkomitee und seit 1973 Generalsekretär seiner Partei, gehorchte. Er gründete mehrere Tarnparteien, um an Wahlen teilzunehmen. Sie wurden entweder verboten oder waren bedeutungslos.
Große Teile der Gewerkschaftsbewegung und der kommunistischen Basis jedoch waren an seiner moskautreuen Politik längst verzweifelt, hatten sich Waffen besorgt und führten Krieg gegen Militärdiktatoren und Großgrundbesitzer. Handal machte diesen Schritt erst 1979, nachdem die Sandinisten im benachbarten Nicaragua die Somoza-Diktatur gestürzt hatten. Sie hatten bewiesen, dass der bewaffnete Kampf selbst im Hinterhof der USA erfolgreich sein konnte.
Handal wurde „Comandante“ und Mitglied der fünfköpfigen Generalkommandantur der FMLN, in der sich die verschiedenen Guerillaverbände 1980 zusammenschlossen. Ein großer Militärstratege war er nie. Er übernahm die politische und diplomatische Vertretung der Guerilla und war nur bei wenigen Truppenbesuchen an der Front. Dass er dabei auch ein paar Mal in Gefechte verwickelt wurde, gesteht er, „war eher Zufall“.
Handal war es, der in der Generalkommandantur der FMLN am meisten auf eine Verhandlungslösung drängte. Als dann 1992, nach zwölf Jahren offenem Krieg, 80.000 Toten und einem militärischen Patt, ein Friedensvertrag mit der rechten Regierung abgeschlossen war, wurde er erster Generalsekretär der zur Partei gewandelten Guerilla. Seit 1997 ist er ihr Fraktionsvorsitzender im Parlament.
Dort wirkt er oft wie aus einer anderen Zeit. Schafik Handal ist kein zum Sozialdemokraten mutierter ehemaliger Revolutionär wie Lula da Silva in Brasilien oder Ricardo Lagos in Chile. Er sagt noch immer: „Ich bin Kommunist und werde es bleiben.“
Und er hat, wie es sich für Kommunisten gehört, seine Partei fest im Griff. In der FMLN gibt es keine auch nur annähernd gewichtige Figur neben ihm. Wie bei den Sandinisten in Nicaragua, wo Daniel Ortega alle Fäden in der Hand hat und trotz drei verlorener Präsidentschaftswahlen in zweieinhalb Jahren noch einmal antreten will.
Doch anders als Ortega ist Handal als Staatsmann noch unverbraucht. Ortega war in den 80er-Jahren schon Präsident – in einer Zeit, die die Nicaraguaner als die des Contra-Kriegs und der fünfstelligen Inflationsraten in Erinnerung haben. Die FMLN dagegen trug nie nationale Verantwortung. Für die Wirtschaftskrise in El Salvador ist die seit 15 Jahren regierende rechtsextreme Partei Arena verantwortlich. Sie hat fast nur ihre eigene Klientel aus Handels- und Finanzkapital bedient.
Durch die Einführung des US-Dollars als Währung wurde El Salvador eines der teuersten Länder Lateinamerikas – freilich ohne dass sich das Einkommen der armen Bevölkerungsmehrheit verbessert hat. Die Folgen sind katastrophal: Auf dem Land sterben täglich Kinder an Unterernährung. In den Städten hat die Kriminalität sprunghaft zugenommen. El Salvador ist heute gefährlicher als das Bürgerkriegsland Kolumbien.
Nachdem neoliberale Experimente in 20 Jahren nur mehr Armut und Gewalt gebracht haben, neigen die Menschen in ganz Lateinamerika heute eher nach links. Das zeigen die Wahlen der vergangenen Jahre. Auch bei der Parlamentswahl 2003 in El Salvador wurde die FMLN stärkste Partei. Doch jetzt bei der Präsidentschaftswahl hat die Exguerilla ein Problem, und das ist dieser Kandidat.
Der grimmige Alte, gestehen selbst Parteifreunde offen ein, ist alles andere als ein Sympathieträger. Und er ist eben Kommunist. Darauf drischt die Rechte munter ein: Handal sei Atheist und wolle den tief gläubigen Salvadorianern die Bibel wegnehmen. Die USA würden ihn nie als Präsidenten akzeptieren und das Land boykottieren, so wie Kuba.
Handal hat sich auf solch billiges Wahlkampfspektakel eingelassen. Seinen Zuhörern in Zacamil verspricht er, er werde die nationale Währung Colón wieder einführen. Als ob dadurch die Preise sinken würden. Er verspricht, dass Bildung und Gesundheit für alle gratis sein werden, weiß aber nicht, wie er das bezahlen soll. Kein Wort über den Sozialismus, an den man in der FMLN unter Androhung des Ausschlusses noch immer zu glauben hat. Kein Wort darüber, dass er noch immer zutiefst davon überzeugt ist, dass nur im Sozialismus „alle Probleme gelöst werden können, die der Kapitalismus geschaffen hat“. So etwas sagt der Kandidat nur im privaten Gespräch.
Auf der Tribüne spricht er stattdessen vom „Kampf des Guten gegen das Böse“ bei der Wahl am 21. März. „Das Böse ist ‚Arena‘ und das Gute sind wir.“ Immer wieder macht er lange Pausen. Dann scheint es, als würde er über sich selbst erschrecken und denken: „Warum erzähle ich solchen Humbug?“.
Seine mürrische Miene wird noch grimmiger. Herzen ist es nicht, was er mit den Kindern macht, die zu ihm auf die Bühne geschickt werden. Er mag das nicht. Aber es rührt seine Wähler. Sein angeschlagenes Herz mag die Strapazen des Wahlkampfes überstehen. Aber vor lauter Verbiegungen wird er ein Magengeschwür bekommen.