Ein Schriftbild der Poesie

Striche, Sterne und Mäander : Mit einem kniffligen Code haben die Designer Florian Pfeffer und Boris Müller die Gedichte für „poetry on the road“ in objektive Bilder verwandelt, ohne auch nur ein Zeichen zu vernachlässigen

Bei jedem A gibt es einen Knick in einem bestimmten Winkel

Jede Schrift ist auch Bild. Das fällt sofort auf, wenn der jeweilige Code unbekannt ist. Dann bleibt garnichts anderes übrig, als etwa japanische, arabische oder indische Schriftbilder als reine Formen zu betrachten, deren Inhalte wir nicht entziffern können

Auf dem Plakat und im Katalog des diesjährigen Literaturfestivals „poetry on the road“ ist solch eine unlesbare Schrift zu sehen: scheinbar willkürliche Striche, Kleckse und Mäander, in denen alle gelesenen Gedichte angeblich auf dem Plakat Platz finden. Nach ihrem hochgerühmten und prämierten Design für das letztjährige Festival hatten die Designer Florian Pfeffer und Boris Müller auch diesmal wieder freie Hand für die bildliche Gestaltung. Und sie fanden eine radikale Lösung für das Problem, Poesie zu verbildlichen.

Dafür abstrahierten sie die Schrift radikal, zerlegten sie in ihre Bestandteile und behandelten einen Text als nichts anderes als „eine ununterbrochene, lange Linie“, so Pfeffer. Jeder Buchstabe ändert nun diesen Strich, entweder in Richtung, Farbe, Dicke oder Länge. Bei jedem „A gibt es zum Beispiel einen Richtungsänderung, einen Knick in einem bestimmten Winkel.“ Die Entscheidung, welcher Befehl an den Computer an welchen Buchstaben gekoppelt ist, sei „rein willkürlich“ gewesen. Hierbei mussten die beiden Designer viel herumprobieren, um herauszufinden, welches Schriftbild „am schönsten aussieht“, erklärtMüller. Wichtig dabei war es etwa, dass man „bei solchem Filigran starke Kontraste haben musste“. Abgesehen von dieser einen „künstlerischen“ Entscheidung ist aber alles andere automatisiert.

„Die Konvertierung ist determiniert.“ Die Gedichte des Festivals wurden in den Computer eingegeben, und der zeichnete jeweils das Bild zum Text. „Dieser Subtext ist gleichzeitig eine Programmiersprache“ erläutert Müller. Man könnte den Prozess auch ohne weiteres umkehren, und ein Computer könnte solch eine Linie in einen Text zurückübersetzen. Der Code ist aber knifflig – vielleicht haben Pfeffer und Müller da ja ganz unbeabsichtigt ein Verschlüsselungverfahren entwickelt, für das sich bald die Geheimdienste interessieren.

Boris Müller kann inzwischen mit bloßem Auge an einem seiner Bilder erkennen, ob ihm ein in deutsch geschriebener Text zugrunde liegt. Am Zeilenfall könne man mit etwas Übung auch poetische Stilformen erkennen. Aber grundsätzlich ist, da ja von Sinn und Poetik des Textes völlig abstrahiert wird, ein Sonett von Shakespeare nicht schöner anzusehen als ein Absatz aus Hitlers „Mein Kampf“ . Wenn allerdings ein Lyriker mit ihrem Programm arbeiten würde – so spinnen Pfeffer und Müller ihr Konzept der „visual poetry“ fort – könnte er auch in der Bildsprache dichten, mit seinen Worten malen, Design und Sinn zu einem Gesamtkunstwerk vermählen. Wilfried Hippen