Die Wiedergeburt der Illustration

Das Pressefoto hat neue alte Konkurrenz bekommen: Immer öfter bebildern Magazine ihre Texte mit Zeichnungen. „Freistil“ ist das erste Kompendium der kommerziellen Illustration im deutschsprachigen Raum

von SEBASTIAN HEINZEL

Silbrig schillernd wie frischer Fisch liegt das Nachschlagewerk in der Hand: „Freistil. Best of Commercial Illustration“. Dabei ist die erste Abbildung auf der Innenseite ganz und gar antikommerziell: Ein Foto zeigt das Werbeplakat einer Bekleidungsfirma, doch jemand hat mit roter und weißer Farbe das Motiv verändert. Die Kleider des Models sind nun nicht mehr zu erkennen, stattdessen fasst sich die Frau auf dem Poster ungeniert zwischen die Beine. Das Foto ist eine von sechs Doppelseiten, die Illustrationen von Straßenkünstlern im freien Raum dokumentieren.

Die Intention von „Freistil“-Herausgeber Raban Ruddigkeit ist es jedoch nicht, Street Art salonfähig zu machen. Der 474-seitige Bildband (H. Schmidt Verlag, Mainz 2003, 39,80 Euro) ist die erste Veröffentlichung dieser Größenordnung, die versucht, das Spektrum deutschsprachiger Illustration zu präsentieren. 175 Illustratoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit mindestens einer Doppelseite, angewandten Techniken und Kontaktdaten: Der Traum vieler Art-Direktoren wurde mit dieser neuen Übersicht wahr. Ruddigkeit, selbst einmal Art-Direktor bei der Monatszeitschrift Das Magazin, wollte dem Wust unzähliger Booklets und Postkarten in den Schubladen der Redaktionen und Agenturen entgegenwirken. Ein „praktisches Tool“ soll der Katalog sein, „eine Strukturierung der Szene“ und Dokumentation ihrer jüngsten Entwicklung.

Seit Ende der Neunzigerjahre macht das gezeichnete Bild der Fotografie wieder ernsthaft Konkurrenz. Illustrierte werden wieder illustriert, internationale Konzerne buchen Zeichner für ihre Geschäftsberichte, und Modestrecken lässt man aufwändig fotografieren, nur damit sie anschließend abgezeichnet werden. Ruddigkeit spricht von einer Renaissance: „Ich habe das Gefühl, dass sich die Fotografie erschöpft hat“, sagt der 35-Jährige, „wir leben in einer Zeit, in der Leute sich wieder mehr vorstellen wollen.“ Fantasie. Sinnlichkeit. Gefühl. Diese Prädikate ordnet Ruddigkeit der Illustration zu. Als Creative Director einer kleinen Berliner Agentur hat er klare Vorstellungen von den Grenzen und Möglichkeiten des Mediums. Nicht nur sauberes Handwerk, Originalität sei gefragt. „Vor allem Berlin“, sagt er, „hat preiswerte, wilde, frische, junge Talente.“

Eines davon ist Boris Hoppek, Ruddigkeits Geheimtipp. Hoppek ist gleich zweimal im Buch vertreten: einmal durch eine illustrierte Doppelseite im regulären Katalog, einmal anonym mit einem übermalten Werbeplakat. Das Bild zeigt eine Mineralwasserwerbung: Eine Frau dümpelt lasziv mit einer Plastikflasche in seichtem Gewässer. Nach Hoppeks Redesign mit der Spraydose hat die Frau ein Smiley-Gesicht; aus dem Wasser grüßt ein gelber Delfin. Mit einfachen, genauen Linien verändert der Straßenkünstler Nacht für Nacht Reklame. „Werbung ist eine schöne Vorlage“, erklärt der 32-Jährige seine Vorliebe. „Graffiti gelten als illegal und hässlich, Werbeplakate kleben überall und werden akzeptiert, nur weil Geld dahinter steht.“ Dabei sei Werbung „ein Angriff auf die menschliche Psyche“.

So gesehen passt Boris Hoppek alles andere als unter die Überschrift „Commercial Illustration“. „Witzig ist, dass ich noch nie was in der Richtung gemacht habe“, erklärt Hoppek am Handy. Gerade befinde er sich in Nordspanien, für unbestimmte Zeit. Bisher finanzierte sich der gelernte technische Zeichner mit dem Verkauf von Bildern und „einer reichen Freundin“, wie er sagt. Die dreihundert Euro Kostenbeitrag für den „Freistil“-Eintrag mochte er nicht bezahlen. Herausgeber Ruddigkeit wollte ihn trotzdem im Buch haben und bekam stattdessen ein Hoppek-Original.

Unter dem Motto „Fight-Love“ hat Hoppek auf einer Doppelseite in simplen Zeichnungen hunderte kleiner Strichmännchen geschaffen, die im Ganzen ein Herz ergeben. Wo die Kollegen unter „Referenzen“ mit großen Kunden wie The New Yorker oder DaimlerChrysler werben, gibt Hoppek schlicht „Fight“ an. Unter „Techniken“ findet sich bei ihm weder Acryl noch Öl, nur ein knappes „Love“. Kaum zu glauben, dass Hoppek damit seinen ersten Auftrag akquirieren konnte. Ausgerechnet das Wirtschaftsmagazin Junge Karriere wollte dreizehn illustrierte Seiten zum Thema „Jobs der Zukunft“ von ihm. Die Zusammenarbeit beschreibt er im Nachhinein als „nicht so einfach“.

„Ich finde es spannender, mit unbekannten Leute zusammenzuarbeiten. Die sind einfacher zu handeln“, antwortet Inka Baron auf die Frage nach der Kommunikation zwischen Redaktion und Illustratoren. Die 30-Jährige ist Art-Direktorin und verantwortlich für das Layout bei Das Magazin. Die kleine Publikation mit 60.000er-Auflage gibt es seit 1924, nach dem Zweiten Weltkrieg erschien sie im Osten. Das Heft ist bekannt für seine Vorliebe für Illustrationen.

„Ein Foto ist immer rechteckig“, erläutert Chefredakteurin Manuela Thieme. „Illustrationen bringen Bewegung ins Heft.“ Inka Baron fügt hinzu: „Es geht nicht um plattes Abbilden, sondern darum, eine zweite Ebene zu finden, und da ist auch die Initiative des Illustrators gefragt.“ Für die studierte Kommunikationsdesignerin ist „Freistil“ eine gute Ergänzung zu ihrem eigenen kleinen Archiv. Dass sie lieber mit jungen Talenten als mit etablierten Zeichnern arbeitet, liegt nicht nur an deren niedrigeren Honoraren. Je bekannter der Name, desto größer die Hemmung bei Änderungswünschen. „Wir hatten einfach mehr Respekt“, so Baron, „und haben uns nicht getraut, etwas zu sagen, weil es ja Olaf Hajek war.“

Olaf Hajek arbeitet nur wenige Straßen von der Magazin-Redaktion entfernt. Sein Atelier im schicken Scheunenviertel in Berlin-Mitte teilt er sich mit Martin Haake, einem anderen renommierten Illustrator, der in „Freistil“ direkt hinter Haake vertreten ist. Beide sind ausgebucht und stecken während des Interviews mitten in der Arbeit. Für seine grob gezeichneten „Fashion Heads“ gewann Hajek die Silbermedaille des „Art Director’s Club“ (ADC) in Cannes und die Goldmedaille beim ADC in London.

Seit drei Jahren erhält er Aufträge großer Modefirmen. Dabei stehe der „inszenierende Aspekt“ im Vordergrund, nicht detailgetreues Abbilden – „Modestrecken machen, ohne Mode zu zeigen!“ Der 37-Jährige verabscheut den Computer, arbeitet zumeist mit Acryl. Entfernt erinnern seine Bilder an die naive Malerei Lateinamerikas. Hajek möchte „weg vom Glatten, Stylischen der Neunzigerjahre“. Langsam kapierten auch „die Leute in Deutschland, dass es Illustration gibt und dass es nicht nur ,anstelle von‘ verwendet werden kann“.

Entdeckt wurde Hajek vom SZ-Magazin, heute zeichnet er für internationale Blätter wie The New Yorker oder das Wall Street Journal. „Ich arbeite für die besten Kunden und die schönsten Zeitschriften der Welt“, sagt er selbstbewusst. Die Illustration sei „ein schönes Zwischending“: frei arbeiten, Geld verdienen. Die Honorarspanne reicht von dreihundert bis fünftausend Euro pro Illustration, je nach Verbreitungsgrad. Durch die Krise werde zwar versucht, die Preise zu drücken, aber Hajek weiß, was er wert ist. An der Universität der Künste in Berlin bringt er der Modeklasse das Zeichnen bei. Zudem war er Mitglied in der „Freistil“-Jury. Da klingt es fast schon ein wenig resigniert, wenn Hajek sagt, „es gibt keine künstlerisch motivierte Illustration“.

Der gleichen Ansicht ist auch Raban Ruddigkeit: „Kunst ist Kunst. Illustration ist Handwerk“, meint der Werber, der nun auf ein regelmäßiges Erscheinen seines Handbuchs hofft, etwa im Zwei-Jahres-Rhythmus. Seine Mailbox füllt sich langsam mit Bewerbungen anderer Illustratoren, die auch Teil des Buchprojekts werden wollen.

SEBASTIAN HEINZEL, 25, lebt als freier Autor und Dokumentarfilmer in Berlin