Seltsame Welt der Deutschländer

Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ wird in der Türkei fast ausnahmslos gefeiert, sogar von Konservativen. Es ist der erste Film über Türken in Deutschland, der in der türkischen Öffentlichkeit nicht als Problemfilm rezipiert wird

Birol Ünel war sauer auf die versammelte türkische Journalistenschar. Auf der Pressekonferenz des Films „Gegen die Wand“ am 8. März, einen Tag vor dessen Premiere im Istanbuler Nobelhotel Marmara, häuften sich die Fragen über Sibel Kekillis „Porno-Vergangenheit“ – und das, obwohl die junge Schauspielerin selbst gar nicht anwesend war. Der Film sei keine Dokumentation über Kekilli, erklärte Hauptdarsteller Ünel, und wenn die Reporter in Bild-Manier weiter darauf rumhacken wollten, würde er wieder abhauen.

So oder ähnlich müssen seine deutschen Sätze geklungen haben, die die Boulevardreporter sogleich in die Landessprache und ihre Klatschkolumnen übertrugen. Am nächsten Abend, bei der Premiere, hatten sie die Skandal-Sibel dann in Fleisch und Blut vor sich, wobei sie enttäuscht waren, wie wenig von ihr zu sehen war: In einem für türkische Filmpremieren ausgesprochen hochgeschlossenen schwarzen Kleid posierte Sibel vor den Kameras, genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, beantwortete tapfer alle Fragen, und wurde dann am nächsten Tag doch mit einem Fauxpas zitiert: „Wo ist eigentlich der Minister?“, hatte sie gefragt, wo der Kulturminister doch just hinter ihr stand. Aber so viel Ignoranz verzieh man ihr, wo sie doch eine „Deutschländerin“ ist.

„Gegen die Wand“ stößt in der Türkei auf unterschiedliche Reaktionen, lässt jedoch niemanden kalt. Da der Film den Goldenen Bären bekam, wird ihm ein nahezu grenzenloser Kredit eingeräumt – selbst konservative Kreise oder Zeitungen wie Zaman lehnen den Film nicht rigoros ab und versuchen, der Porno-Vergangenheit Sibels mit größtmöglicher Toleranz zu begegnen.

„Mädchen, hör auf, du gehst zu weit!“, rufen Zuschauer leise aus ihren Reihen, wenn Sibel auf der Leinwand wieder einmal eine große Dummheit begeht – trotz ihrer Borderline-Rollen rufen Sibel und Cahit Sympathie und Verständnis hervor, vor allem bei jungen Istanbulern. „Gegen die Wand“ ist der erste Film über Türken in Deutschland, der nicht als ein Problemfilm über „Deutschländer“ rezipiert wird. Noch lange nach dem Abspann bleibt der volle Kinosaal ergriffen sitzen.

Nur eine Minderheit zeigt sich enttäuscht. Das sei nicht Akins bester Film, sagt sie, Sibel Kekilli fehlten Emotionen, und der Film sei wohl nicht wegen seiner Qualität, sondern wegen seiner „dem Westen gefälligen“ aktuellen Thematik (Frauenrechte unter Muslimen) ausgezeichnet worden. Er hätte ein besseres Ende haben können, und überhaupt sei „Im Juli“, Akins vorletzter Streifen, viel besser gewesen. Kritisiert werden von dieser Minderheit auch die Bettszenen – als „übertrieben“ und „unnötig in die Länge gezogen“.

Genau diese Zuschauer hatte Yildirim Türker, der meistgelesene Kolumnist der linksliberalen Intelligenz im Blick, als er vor einer Woche in der Zeitung Radikal seine Lobeshymne auf „Gegen die Wand“ verfasste: Es sei ein starker Film, der in beiden Ländern lange unvergessen bleiben werde, mit Anleihen bei alten US-Melodramen, Punk und türkischen Schnulzen. „Eine seltsame Welt“, konstatierte Türker, mit Protagonisten, die es „wegen ihrer Wunden, mit denen sie aufwuchsen“, vielen Türkei-Türken schwer machten, sich mit ihnen zu identifizieren. Aber aus seinen Zeilen ging auch deutlich hervor, wie ergriffen er selbst von diesem Film über „Einsamkeit, Unschuld und Freiheit“ war.

Am meisten angetan ist das türkische Publikum von dem Hauptdarsteller Birol Ünel in der Rolle des sensiblen Cahit. Er wird in allen Kritiken als die tragende Säule des Films und der Film selbst als sein Abenteuer bezeichnet, während Sibels „Unterdrückungsgeschichte“ für die Türkei nichts Neues darstelle.

„Gegen die Wand“ konfrontiert die Türken in der Türkei mit einer ganz neuen, zerbrechlichen und doch selbstbewussten, aber vor allem ehrlichen, jungen Generation Türken in Deutschland. Nach über 40 Jahren Migrationsgeschichte räumt er mit dem Klischee des Türken „zwischen allen Stühlen“ auf. Birol Ünel brachte zur Filmpremiere nicht zufällig die Botschaft eines türkischen Freundes aus Deutschland mit: „Um Gottes willen, sag denen in Istanbul, es geht uns hier wirklich gut!“

DILEK ZAPTCIOGLU