Eine Langnase will trotzen

Der Weltranglistenerste Timo Boll kommt aus dem kleinen Hessen – und muss es bei der Weltmeisterschaft in Paris mit der Tischtennis-Großmacht China aufnehmen

aus Paris HARTMUT METZ

Im Tischtennis-Zentrum in Peking hängen Poster der Stars des kleinen Zelluloids, unter ihnen auch der Deutsche Timo Boll. „Ich würde mir gewiss keines von einem Chinesen aufhängen“, ulkt der Hesse im Gegenzug, als er von dieser Galerie erfährt. Mitte der 90er-Jahre bestritt Boll dort, im Mekka des Pingpongs, einen Lehrgang. „Damals haben sie mich noch reingelassen!“, scherzt er. Tipps haben die Chinesen dem Talent aber schon damals nicht gegeben – aus Prinzip. Doch auch so hat sich Boll, mittlerweile Weltranglistenerster, zum Angstgegner der Pingpong-Großmacht gemausert. Die Chinesen rekrutieren für die eigenen Asse sogar Spieler, die als Sparringspartner Bolls Stil kopieren. Bei der Tischtennis-WM, die gestern mit der Qualifikation in Paris begann, ist der 22-Jährige dennoch einer der wenigen Akteure unter den 680 Teilnehmern aus 116 Nationen, die einen erneuten Durchmarsch der Chinesen zu fünf Goldmedaillen verhindern könnten.

Entsprechend fragte das chinesische Staatsfernsehen bei der Langnase aus Deutschland an, ob er vor der WM für einen Beitrag zur Verfügung stünde. Sein Medienberater, der wegen des gestiegenen Interesses erstmals für einen deutschen Tischtennis-Profi angeheuert wurde, blockte dankend ab. Während sich die Kontrahenten aus dem Reich der Mitte seit vier Monaten abgeschottet – auch wegen SARS – auf die Welttitelkämpfe vorbereiteten, wollte der Spitzenspieler des TTV Gönnern wenigstens drei Wochen ungestört sein.

Jetzt fühlt sich Boll wieder „heiß und scharf auf Tischtennis“. Die Niederlage beim Bundesliga-Halbfinal-Play-off gegen Borussia Düsseldorf hat er verdaut, sie hat ihn gar „angestachelt“. „Ich hasse es zu verlieren. Ich habe nun alles dafür getan, dass das nicht mehr passiert“, sagt Boll. Die Auslosung im Palais Omnisport geriet zudem äußerst günstig für den Star. Zwar wartet morgen, nach einem Qualifikanten in Runde zwei, mit Qiu Jike ein „Hammer“, wie Boll findet, dennoch sollte der Hobby-Golfer den Weltranglisten-40. aus dem Weg räumen. Die ab dem Achtelfinale folgenden potenziellen Gegner wie Olympiasieger Kong Linghui und in der Vorschlussrunde Titelverteidiger Wang Liqin (beide China) oder Werner Schlager (Österreich) sind allesamt stark – jedoch hat Boll sie zuletzt alle geschlagen. Die für ihn weitaus unangenehmeren Chuan Chih-Yuan (Taiwan), Europameister Wladimir Samsonow (Weißrussland), Geheimfavorit Wang Hao und dessen chinesischer Landsmann Ma Lin beharken sich derweil in der unteren Hälfte des Tableaus. Und kommt es im WM-Endspiel zu einem erneuten Aufeinandertreffen mit Ma Lin, sollte der Weltranglistenzweite diesmal einen Ersatzschläger in der Tasche parat haben. Bei den Katar Open hatte Boll seinem schärfsten Verfolger in den Rankings erlaubt, seinen demolierten Schläger frisch zu bekleben. Das gibt diesem allerdings auch bessere Spieleigenschaften; Ma Lin gewann das Match. Boll erhielt dafür im April den Fair-Play-Preis des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS). Dennoch sagt er: „Ich forderte in einem Brief den chinesischen Verband auf, künftig für Ersatz zu sorgen.“ Bei der WM darf Ma Lin jedenfalls kein so großes Entgegenkommen erwarten.

Bereits in Runde drei könnte der Chinese auf Torben Wosik treffen. Der Überraschungs-Vizeeuropameister aus Frickenhausen wiederum wäre schon froh, wenn er überhaupt so weit kommt. Damit dürfte er genügend Weltranglistenpunkte sammeln, um Platz 25 zu behaupten und erstmals die direkte Olympia-Qualifikation zu schaffen. „Ich habe noch nie eine WM-Einzelmedaille gewonnen. Selbst in meinem besten Jahr, 1993, nicht“, bemerkt derweil Jörg Roßkopf. Der 254fache Rekordnationalspieler glaubt deshalb nach seiner langen Verletzungspause auch diesmal nicht an einen Coup. Dem 33-Jährigen aus Gönnern droht ebenso in Runde drei das Aus gegen den an Position fünf gesetzten Schlager. Dafür könnte Bolls Doppelpartner Zoltan Fejer-Konnerth dann noch dabei sein – obwohl ihm unter den letzten 64 Tischtennis-Legende Jan-Ove Waldner als Gegner droht. Der schwedische Weltmeister von 1989 und 1997 ist indes immer noch durch einen Beinbruch im Herbst gehandicapt. Von den fünf deutschen Frauen sind hingegen mehr als einzelne Achtungserfolge nicht zu erwarten.

Derweil beschreibt Boll die Kontakte zu den chinesischen Kontrahenten als „nicht so gut wie zu den Europäern“ und scherzt: „Das liegt aber auch daran, dass sie immer so lange im Wettbewerb spielen – oder früh ins Bett gehen.“ Trotz der Rivalität ködern ihn die Chinesen mit einem Engagement in ihrer Liga. Der 22-Jährige will aber erst dann nach Asien wechseln, „wenn ich alles gewonnen habe“. In Paris möchte der junge Hesse auf dem Weg dorthin dem 90fachen WM-Goldmedaillen-Koloss das erste Schnippchen schlagen.