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Archiv-Artikel

Weniger Musik als Zustand

Minimal-Music-Begründer, Noise-Rock-Vordenker, Schattengestalt der Musikgeschichte: In Berlin gab es eine der seltenen Aufführungen aus dem Werk La Monte Youngs

La Monte Young ist der wohl bekannteste unbekannte Komponist der Gegenwart. Der New Yorker ist nicht nur in der zeitgenössischen E-Musik als der Begründer der Minimal Music berühmt und als der Schöpfer von zum Teil nächtelangen Kompositionen, die oft nur aus wenigen, lang angehaltenen Tönen bestehen. In der bildenden Kunst kennt man ihn als einen der Mitbegründer der Fluxus-Bewegung. Und in seinem Ensemble Theatre of Eternal Music spielte Mitte der Sechzigerjahre John Cale sehr lang angehaltene Töne in ohrenbetäubender Lautstärke auf der elektrisch verstärkten Bratsche. Über die beiden Musiker kamen diese so genannten Drones in die Rockmusik. Cale machte mit Velvet Underground das ununterbrochene Anhalten von verzerrten, sich überlagernden Soundflächen zum Element von heutigem Noise-Rock. Zu den Bands, die von den Ideen Youngs beeinflusst waren, gehören die Stooges, Spacemen 3, Sonic Youth und Suicide, aber auch die gesamte Ambient-Musik.

Im umgekehrten Verhältnis zum musikalischen Einfluss von La Monte Young steht sein veröffentlichtes Werk. Er hat fast keine seiner Kompositionen auf Platte oder Notenpapier herausgebracht. Das wenige, was es gibt, ist vergriffen. Dadurch bleibt der Komponist vor allem eine legendäre Gestalt – wenn man nicht das Glück hat, eins seiner Stücke live aufgeführt zu erleben. Wie am Montag bei dem Berliner Festival MaerzMusik, wo vor ausverkauftem Saal die Auftragskomposition „Just Charles & Cello in The Romantic Chord“ (2002/2003) zu hören war.

Spätestens dann wird klar, dass Youngs Kompositionen weniger Musik als ein Zustand sind. Dass es ihr darum geht, den Zuhörer aus seiner Alltagserfahrung herauszuholen und in einen Zustand gesteigerter Wahrnehmung zu versetzen. Wen das an alte Hippie-Sprüche erinnert, der liegt richtig. Nicht nur die Ideen in La Monte Youngs Musik kommen unübersehbar aus den Sechzigerjahren, sondern auch die Formen ihrer Inszenierung.

Das Foyer der alten Freien Volksbühne, in der das Konzert stattfindet, ähnelt einer riesigen Teestube. Man wird empfangen vom Geruch von Räucherstäbchen und den sanften, warmen Lichtprojektionen in Magenta und Nachtblau von Marian Zazeela, Youngs Ehefrau. Seit ihrer Heirat 1962 lässt Young seine Kompositionen nur in Räumen aufführen, die von ihr gestaltet sind. Die einzigen Sitzgelegenheiten sind zahlreiche Kissen auf dem Boden. Hier und da wird noch schnell ein Joint herumgereicht, während sich das Publikum in losen Gruppen auf dem Teppichboden verteilt und auf den Beginn des Konzerts wartet. Das hat freilich schon unmerklich begonnen: Leise summt ein surrender Dauerton vor sich hin.

Konzert? „Exerzitium“ trifft es besser. Das vierstündige Konzert ist eine Erfahrung, die zum Teil anstrengend und langweilig ist, dann aber in zunehmendem Maß fruchtbar und belohnend. Als der Cellist Charles Curtis, für den das Stück komponiert wurde, die Bühne betritt, verstummen die Gespräche. Der ununterbrochene Ton wird lauter und entpuppt sich als Loop eines einzigen Cello-Klangs. Über diesen Bordun-Klang spielt Curtis sein Solo. Dass sich dieser Ton im Laufe des Konzerts in einen elektronischen Sound morpht, ist eigentlich die größte Entwicklung des ganzen Abends.

Zunächst konzentriert sich die ganze Wahrnehmung auf diesen auf- und abschwellende Klang. Er scheint schnell den ganzen Raum einzunehmen. Weil Curtis sein Cello im dorische Modus gestimmt hat, klingt die Musik oft wie ein indischer Raga in Zeitlupe. Man dämmert weg, ohne müde zu sein, ist gleichzeitig hellwach und komplett weggetreten. Man schaut auf die Uhr, es sind anderthalb Stunden vergangen, niemand weiß, wie. Der Konzertsaal erinnert jetzt an eine Opiumhöhle. Manche im Publikum sitzen im Halbdunkel im Lotus-Sitz, andere sind in sich zusammengesackt oder liegen in Haufen übereinander. Jedes Räuspern, jedes Schlüsselrasseln wirkt wie eine Explosion. Darum gibt es von La Monte Young wohl auch so wenig veröffentlichte Musik: Letztlich ist sie nicht zu reproduzieren, sondern nur in Konzerten wie diesem erlebbar. Nach vier Stunden ist die Hälfte des Publikums übrig geblieben, um sich bei Charles Curtis mit frenetischem Beifall zu bedanken. TILMAN BAUMGÄRTEL