: Die netten Jungs von nebenan
Ungläubiges Erstaunen und Angst herrschen unter marokkanischen Einwanderern in Lavapiés, dem Madrider Stadtviertel,in dem die Attentäter vom 11. März lebten. Viele fürchten nun, für die 202 Toten kollektiv verantwortlich gemacht zu werden
AUS MADRID REINER WANDLER
„Ich konnte es einfach nicht glauben“, war Khaleds erste Reaktion, als er von der Festnahme seiner drei Landsleute nach den Anschlägen auf die Pendlerzüge von Madrid hörte. Der Marokkaner Dschamal Sugam und seine zwei Kollegen waren für alle im zentral gelegenen Madrider Einwandererviertel Lavapiés die netten Jungs von nebenan. „Wir kauften bei ihnen ein oder telefonierten von dort aus nach Hause. Es war der beste Telefonladen im Quartier“, erzählt der 28-Jährige.
Jetzt ist das Geschäft versiegelt. Die drei Inhaber sitzen in Haft. Sie sollen für die Attentate vom 11. März die Mobiltelefone sowie die Chipkarten für die Zeitzünder in den 13 Bomben besorgt und manipuliert haben. Sugam wurde von Augenzeugen wiedererkannt. Er soll in einem der Züge einen Rucksack mit Sprengstoff deponiert haben. Die Polizei hat mittlerweile ermittelt, dass Sugam Kontakte zu al-Qaida in Spanien, England und Marokko unterhielt.
„Ich kann es einfach nicht glauben“, sagt Khaled kopfschüttelnd ein weiteres Mal. Der Klempner, der seit drei Jahren in Lavapiés, lebt, verplaudert mit seinen Freunden die Zeit zwischen Arbeitsschluss und Abendgebet auf dem Platz Augustín Lara, gleich neben dem Gebetsraum, der in einem Ladenlokal eingerichtet ist. „Ich kannte Dschamal vom Sehen“, erzählt Khaled, auf der Straße, beim Gebet oder auch in einem der marokkanischen Restaurants sei er ihm hin und wieder über den Weg gelaufen. „Er trug das Haar halblang, ging gerne in Diskotheken“, sagt Khaled. Lebhaft wehrt er sich: „Wir haben keine Lust, jetzt alle für ein paar schlechte Menschen zu zahlen. Wir sind Arbeiter und keine Terroristen.“ Die Bomben und die Verhaftungen von Marokkanern belasten das Klima im Quartier. „Meine Nachbarn grüßen mich nicht mehr auf der Treppe, und einer hat mich sogar im Vorbeigehen als Mörder beschimpft. Der Islam hat damit doch nichts zu tun.“
Das von jeher nicht unproblematische Zusammenleben droht seit den Attentaten aus den Fugen zu geraten. In Lavapiés, dem ehemaligen jüdischen Stadtteil Madrids, landen viele, die gerade erst nach Madrid gekommen sind. Offiziell 30 Prozent der Bewohner sind Einwanderer. Oft mieten die Ankömmlinge nur ein Bett, das sie im Schichtbetrieb mit anderen teilen. Viele von ihnen erscheinen gar nicht in den Statistiken.
Schräg gegenüber vom Telefonladen liegt das Restaurant Al Alhambra, in dem Sugam manchmal zu Mittag aß. Auch hier stößt man auf Zweifel: „Die haben nur ein paar Handys verkauft. Mehr ist doch überhaupt nicht bewiesen“, meint Rachid. Alle an der Theke kennen den Telefonladen, und alle sind sich einig: Sugam und seine Freunde haben mit den Anschlägen nichts weiter zu tun.
Rachid, der seit fünf Jahren in Spanien lebt, nimmt jeden Tag den Nahverkehrszug ins Zentrum, wo er sich seinen Lebensunterhalt mit dem Putzen von Büroräumen verdient. Er steigt an der Haltestelle Pozo del Tío Raimundo in den Pendlerzug ein. Dort explodierte am 11. März eine der Bomben und zerfetzte einen Waggon. „Ich bin von der Explosion wach geworden“, sagt der Nachtarbeiter. Von der Dachterrasse des Wohnblocks aus sah er dann das ganze Elend. „Jetzt zeigen sie erst recht mit dem Finger auf uns“, sagt Rachid resigniert. „Die Polizei verdächtigt alle, die arabisch aussehen“, beschwert er sich. Der Weg durch Lavapiés sei, seit die Polizeikontrollen zugenommen haben, zum Spießrutenlauf geworden. Er hat kein Verständnis für die Folgen der angespannten Sicherheitslage.
„Als ich hörte, dass es nicht die ETA war, sondern Araber, wurde mir ganz anders, und als dann Marokkaner verhaftet wurden, bekam ich richtig Angst“, sagt Sakina Soulaimani und schaut betroffen vor sich hin. „Das kann eine Situation heraufbeschwören, die für uns unerträglich wird.“ Die 40-jährige Frau aus Fez lebt schon seit 15 Jahren in Madrid. Sie ist mit einem Spanier verheiratet und hat zwei Kinder. Sakina koordiniert die „Interkulturellen Vermittler“ – einen Service der Stadt Madrid, der das Verständnis zwischen Einwanderern und Mehrheitsgesellschaft fördern soll. Sakinas Truppe besorgte Übersetzer für die Angehörigen der ausländischen Opfer, damit sie Kontakt zu den spanischen Stellen aufnehmen konnten, und half ihnen durchs Behördendickicht. Mindestens 41 der 202 Toten sind Immigranten, drei sind Marokkaner.