Zauber der Ziellosigkeit

Ein anrührendes und ebenso komisches Wunderwerk: Gerhard Henschel zeigt mit seinem „Kindheitsroman“, wie ein Kind die Welt betrachtet, wie Erinnerungen entstehen und die Zeit vergeht

Gerhard Henschel hat dem Kind, das er war, eine authentisch klingende Stimme gegeben

VON KARSTEN KREDEL

Erinnerung, sanfter Zauber: „Meins war das Lätzchen mit den Marienkäfern. Ein Löffel für Oma, ein Löffel für Opa, bis unten im Teller die schwarzen Körner pickenden Hühner auftauchten. Mein Löffelstiel war zur Seite gebogen.“ Ein früher Moment im Kinderleben dehnt sich zur Verträumtheit und bleibt von nun an immer auffindbar, irgendwo hinter den Pforten der Tagträume, die noch kommen werden –er sinkt auf den Grund eines Meeres namens Seele, liegt dort und wird manchmal durch Bewegungen der See angestoßen, vielleicht sogar an die Oberfläche geschaukelt, im Gespann mit der prompt erfolgten Ermahnung der Mama, ihrem Ruf zurück zum so genannten Ernst des Lebens: „Nicht träumen!“

Liegt es daran, dass Mamas eigene Träume bitter schmecken? Das Kind ahnt davon nichts, doch wer Gerhard Henschels großen, erschütternden Roman „Die Liebenden“ kennt, hat Inge Schlosser in Erinnerung behalten als begabtes, lebenslustiges Mädchen, als Geliebte und Gattin ihres Richard und schließlich als eine Frau, die so lange für morgen ackerte, bis ihre Talente im Gestern untergewühlt waren. Das Buch, zusammengesetzt aus authentischen Briefen, erzählte eine bundesdeutsche Familiengeschichte: von der Hoffnung auf bessere Zeiten bis zu ihrer maßlos enttäuschenden Erfüllung, von der großen Liebe bis zur Entfremdung. Auf dem Weg von der Wohnung zur Reihenhaushälfte, zum Eigenheim kam der Nachwuchs, und in die Kindheit des dritten Sprosses, 1962 geboren, hat sich der jahrgangsgleiche Henschel jetzt hineingeträumt: „Ein Löffel für Martin. Das war ich selbst. Martin Schlosser.“

Der „Kindheitsroman“ ist ein Wunderwerk, zutiefst anrührend und ebenso komisch. Ganz lässig erzählt Martin sein Menschenleben: Jungs und Mädchen, Abenteuer in der Schlucht und wie es ist, mit Windpocken im Bett zu liegen, was es zu Weihnachten gab und was im Fernsehen kam. Die Farben der Kababecher, der Staub auf den Topfpflanzen im Wartezimmer, das Rieseln des Schnees. Und weil sich das Kind erinnert, nicht der erwachsene Mann, beschweren weder therapeutische Absichten noch nostalgisches Verlangen das Projekt, bemäntelt der Lauf der Zeit keinen Entwicklungsroman und ist keine Bilanz zu ziehen. Die Erzählung folgt keinem Ziel, nur der Verwunderung des Kindes, dem Takt seines Herzschlags.

Der Strom der Erinnerung verbirgt ein Meisterstück literarischer Inszenierung: Der Roman ist aus hunderten Miniaturen zusammengesetzt, kleinen Collagen aus Geschehnissen, Gedankenfetzen, Klangspuren und allem, was dem Moment seine materiale Textur verleiht. Sie fügen sich zu einer Erzählung, die im gleichmäßigen Rhythmus von Geburtstagen, Weihnachtsfesten und Ferienreisen voranschaukelt. Henschel führt vor, wie sich aus der unberührten Ebene eine seelische Landschaft hebt, wie Erinnerungen entstehen und Zeit vergeht.

Dabei verwendet er erzählerische Gesten mit großer Sparsamkeit. Das Kind besitzt gar nicht das Vokabular, seine Empfindungen zu erklären, doch um wie viel klarer, schöner und literarischer ist es, wenn es die Zuneigung zu seiner Lieblingstante und seine Schwärmerei für ein Mädchen aus der Nachbarschaft so verrät: „Auf dem Spielplatz hinterm Ladenviertel zeigte ich Tante Dagmar, wie ich an den Gerüsten klettern konnte. Andrea war nicht da.“ Was zählt, ist die Beschaffenheit der Dinge, ihr emotionales Gewicht, das Senkblei am flüchtigen Augenblick: die Haare, die aus der Nase des Vaters wachsen, wie es knackt, wenn er Gewürzgurken isst, das silberne Wappen am Krückstock der Oma. Die Welt ist noch ganz Kunstwerk.

Martins Erinnerungen stehen auf authentischem Boden, doch ihre Wahrhaftigkeit verdanken sie dem Sprachkostüm, in das sie gekleidet sind: Gerhard Henschel hat dem Kind, das er war, eine authentisch klingende Stimme gegeben, und es spricht für seine Meisterschaft, dass die gestalterische Anstrengung keine Ablagerungen (oder gar eitle Fingerzeige) im Fluss der Erzählung hinterlässt. Den „Kindermund“ behandelt er nicht wie ein primitives Entwicklungsstadium, sondern als spezielles kolloquiales Idiom mit bestimmten Eigenarten, die es herauszuarbeiten und auf ihre poetische Wirkkraft hin zu untersuchen gilt; Wendungen wie „dem seiner“ oder „die zuen Fensterchen“ würde man in wenigen Kinderbüchern finden. Die Kindheit ist eine ständige Begegnung mit Sprache („Endlich durfte ich wieder fernsehen. Im Asbach Uralt steckt der Geist des Weines“), und manchmal erschrickt man fast, wie sehr sie Martin nicht nur bildet, sondern ihn als Figur herausbildet, wie sie ihm Mittel nicht nur zur Benennung, sondern auch zur Bewertung an die Hand gibt. Henschel lässt ihn plaudern, wie ihm der Schnabel wächst, und baut aus seinen Erlebnissen und einem wahren Kompendium vergangener Alltagssprache einen Resonanzraum, in dem er die Komik nur sanft anschubsen muss, um sie verstärkt widerhallen zu lassen.

Die seltsamsten Begriffe kommen aus dem Mund der Eltern, üblicherweise in Form eines Tadels: Fisimatenten, Schindluder treiben, ein blaues Wunder erleben. Trotz der Nähe bleiben sie vage, ferne Gestalten, beinahe so fern wie die Zeitgeschichte, die im Hintergrund Schatten wirft –was übrigens umgekehrt nicht anders ist. Dort, in den Briefen der „Liebenden“, kommt Martin nur als ein schwieriges Kind vor, hier dagegen heißt es: „Weil wir reicher geworden waren, gab es dieses Jahr Spekulatiuskekse mit Mandelsplittern.“ Der Papa ist ein tumber Tyrann, die Mama eine kluge, ungeduldige Autorität. Und Martin? Ein Junge, der in Gedanken die große, weite Welt heim in die leer gefegten Straßen der westdeutschen Idylle holt und der schließlich, als ein weiterer Umzug bevorsteht und die Spiele im Wald ihren Zauber verlieren, langsam aufhört, Kind zu sein. „De ganze leeve Tiet, wo is se bleeven?“– trotz aller Schwere dort und Leichtigkeit hier liegt im poetischen Stoßseufzer Inge Schlossers, der Mama, die Essenz von beiden Romanen, dem der Eltern und dem des Kindes. Letzterer setzt am Ende keinen Schluss-, sondern einen Doppelpunkt: „Denn man tau.“ Es folgt der Rest der Lebensbahn.

Gerhard Henschel: „Kindheitsroman“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2004, 494 Seiten, 22,90 €