Schnuppern am Podium

Der Erfurter Stefan Lindemann liegt vor der heutigen WM-Entscheidung überraschend auf dem dritten Rang. In der DEU dient das als Beweis, dass die eingeleiteten Reformen bereits Früchte tragen

„Es ist nicht so, dass wir jetzt von ihm die Medaille verlangen“, sagt der DEU-Präsident

AUS DORTMUND MATTI LIESKE

Es war keine dankbare Aufgabe für Stefan Lindemann, direkt nach Ewgeni Pluschenko aufs Eis zu gehen. Die Ovationen angesichts der hervorragenden Noten, die der Russe für sein fabelhaftes Kurzprogramm bei der WM erhielt, waren noch nicht verebbt, und das Publikum in der Westfalenhalle schien Schwierigkeiten zu haben, sich darauf einzustellen, dass schon ein neuer Läufer die Fläche betreten hatte, auch wenn es zufälligerweise ein Landsmann war. Doch dann lief der Erfurter kurz an, setzte seinen Vierfach-Toeloop, der ihm so oft zum Verhängnis geworden war, souverän aufs Eis, ließ einen dreifachen nahtlos folgen, und von da an ging alles wie von selbst. Tosender Jubel begleitete das restliche Programm, erstmals in seiner Karriere absolvierte Lindemann bei einem Großereignis zwei Wettkämpfe, Qualifikation und Kurzprogramm, fehlerfrei. Der Lohn war Rang drei vor der heutigen Kür hinter Pluschenko und Europameister Brian Joubert.

Heute Abend wird Stefan Lindemann als vorletzter Starter vor Pluschenko an den Start gehen, und es darf als veritable Sensation gelten, dass der gastgebende Verband schon bei der ersten Entscheidung der Weltmeisterschaften bis zum Schluss ein heißes Eisen im Medaillenfeuer hat. Als Fest der Eiskunstlaufens hatten die Veranstalter diese WM an traditioneller Stätte konzipiert, allerdings versprach es eine Zelebration mit leicht bitterem Beigeschmack zu werden. Die Besten der Welt geben sich vor ausverkauftem Haus die Ehre in einer alten Hochburg des Sports, deren eigene Athleten jedoch längst den Anschluss zur Spitze verloren haben, nur noch über wenige Startplätze verfügen und lediglich als sanft bemitleidete Staffage für ein bisschen Lokalkolorit sorgen. So war im Vorfeld viel die Rede von einstiger Größe, von den gesamtdeutschen Koryphäen der Vergangenheit, die bei legendären Auftritten an gleicher Stelle Triumphe gefeiert hatten: Kilius/Bäumler, Katharina Witt, Manfred Schnelldorfer, Jan Hoffmann, Anett Pötzsch, Dagmar Lurz. Sehr viel weniger war die Rede von den aktuellen Startern der Deutschen Eislauf-Union (DEU).

Besonders Stefan Lindemann muss es geärgert haben, immer wieder von der absoluten Chancenlosigkeit im Medaillenkampf zu lesen. Andererseits: So recht beschweren konnte er sich nicht. Zwar hatte der heute 23-Jährige mit dem Gewinn der Junioren-Weltmeisterschaft 2000 gezeigt, welch großes Potenzial in ihm steckt, doch danach musste er erleben, wie Läufer, die er damals locker besiegt hatte, an ihm vorbeizogen. Brian Joubert zum Beispiel, der 19-jährige Franzose, der dem übermächtigen, allerdings am Meniskus lädierten Pluschenko jüngst in Budapest frech den EM-Titel wegschnappte. Bei Lindemann hingegen reihte sich Enttäuschung an Enttäuschung. Die verpasste Qualifikation für Olympia 2002 in Salt Lake City, im letzten Jahr dann die Weigerung des Verbandspräsidenten Reinhard Mirmseker, ihn zur WM nach Washington zu schicken, weil er aufgrund seiner notorisch schlechten B-Note nicht konkurrenzfähig sei. Hinzu kamen viele Verletzungen und Krankheiten. Ein frustrierter Lindemann dachte ans Aufhören. „Die Leistungen wurden einfach nicht besser, ich hatte mein Kämpferherz verloren“, sagt er jetzt. „Es fehlte der absolute Moment, wo es mal sauber im Wettkampf rauskommt“, erklärt Mirmseker. Diesen Moment erlebte Lindemann nun in Dortmund, teilweise aber auch schon in Budapest bei der EM, wo der Erfurter Fünfter wurde.

Grund genug für Mirmseker, sich in seinem harten Kurs bestätigt zu sehen. „Ich bin besonders froh, weil gerade ich sehr streng mit ihm war“, sagte in Dortmund der DEU-Präsident über Lindemann, der ihm vor allem die Washington-Geschichte mächtig übel genommen hatte. Seit rund eineinhalb Jahren im Amt, sind Mirmseker, hauptberuflich Fernsehjournalist, und Sportdirektor Udo Dönsdorf bemüht, mit handfestem Pragmatismus einen Verband zu reformieren, der vorher in einem Wirrwarr aus Funktionärseitelkeiten und Trainerquerelen zu ersticken drohte. Die Leistungskriterien sind hoch, dafür wird versucht, die besten Leute sinnvoller und effektiver zu unterstützen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Es gibt einen intensiveren Kontakt zu den Trainern, Sportpsychologen werden hinzugezogen, Lehrgänge bei renommierten ausländischen Coaches und Choreografen finanziert.

Bei Stefan Lindemann, der stets Schwierigkeiten mit der Wettkampfstabilität und, auch wegen seiner geringen Körpergröße von 1,63 m, mit der künstlerischen Ausstrahlung hatte, haben diese Innovationen offensichtlich besonders gewirkt. Eine Stippvisite beim ukrainischen Trainer Nikolajew zahlte sich ebenso aus wie die Mitarbeit eines Choreografen der Erfurter Oper am neuen Programm. Die Kurzkür passte musikalisch und künstlerisch perfekt zu Lindemanns dynamisch-kompaktem Laufstil. Der Lohn war eine weit bessere B-Note als gewohnt.

„Irgendwann soll er schon aufs Treppchen“, sagt Mirmseker über seinen neuen Vorzeigeläufer, „aber es ist nicht so, dass wir jetzt von ihm die Medaille verlangen.“ Ein Platz unter den ersten zehn war bei Lindemann das erklärte Ziel vor der WM, dass er nun am Podium schnuppern darf, kommt sogar ihm selbst ein bisschen unwirklich vor. „Es fühlt sich gut an, hier neben Pluschenko und Joubert zu sitzen“, sagte er strahlend, nachdem er immerhin schon mal eine winzige Bronzemedaille im Format eines Zwei-Euro-Stücks für seinen dritten Platz im Kurzprogramm bekommen hatte. Was Lindemann noch fehlt zur Klasse seiner beiden Kollegen, weiß DEU-Präsident Mirmseker exakt zu benennen: „Qualität der Pirouetten, Tempo und Schritte, originelle Choreografie.“ Aber daran könne man viel besser arbeiten, wenn die Sprünge sitzen. Ähnlich sieht es der Läufer selbst. „Ein mittelgroßer Schritt“ sei es noch bis zu Pluschenko, sagt Lindemann, verrät aber nicht, ob er einen Schritt des Russen (1,78 m) oder eher einen seiner eigenen im Auge hat.