: walter höllerer ist tot
Kulturenzüchter
„Natürlich“, sagte Walter Höllerer einmal, „ist Sulzbach-Rosenberg der Mittelpunkt der Welt.“ Das kann ernsthaft nur einer behaupten, der dort, in der Oberpfalz, geboren wurde und der in seiner Eigenschaft als Literat und Literaturwissenschaftler geübt darin war, eine Welt nach seinem Willen und seiner Vorstellung zu schaffen. Zum Mittelpunkt seines Lebens wurde jedoch Berlin, und er selbst stand zumindest für ein Jahrzehnt im organisatorischen Zentrum der westdeutschen Literatur.
Man muss nur aufzählen, was ihm gelang: 1954 gründete er mit Hans Bender die Zeitschrift Akzente, die er bis 1967 leitete. Von 1961 an gab er die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter heraus, weil er mehrere Orte brauchte, um seine Leidenschaft als Entdecker und Anreger der modernen Literatur auszuagieren. In Berlin gründete er 1963 das „Literarische Colloquium“ als Antwort auf den Mauerbau: Gegen die drohende Isolierung der Stadt bot er die Villa am Wannsee auf, die zu einer Art Zentralinstitut der (west)deutschen Literatur werden sollte und letztes Wochenende ihr 40-jähriges Bestehen feierte. Höllerers halbes Leben ist mit diesem Haus verknüpft – allein dafür hätte er, der von 1959 bis 1988 als Professor an der Technischen Hochschule wirkte und dort das Institut für Sprache im technischen Zeitalter gründete, die Ehrenbürgerschaft der Stadt verdient. Höllerers Auftritte als Kritiker in der Gruppe 47 beschrieb einst Martin Walser in haltbarer Genauigkeit: „Er hebt zuerst die energische kleine Hand. Er verbindet das gern mit einer ersten Drehung des Oberkörpers, so als wolle er die Unabhängigkeit einzelner Körperpartien voneinander erproben. Wenn er und eine seiner waagrechten Schultern zu dir hinschauen, ist er in Ausgangsstellung. Er wird dein Vorgelesenes flink tranchieren, in Schnitte, wie fürs Mikroskop zerlegen, wird einzelne Sätze vom Gros abtrennen, wird sagen, das seien für dich typische Sätze, du hörst zum ersten Mal, dass es für dich typische Sätze gibt …“
Als „großen Kulturenzüchter“ bezeichnete ihn Walser, und das war keineswegs übertrieben. Die literarischen Werke Höllerers, seine frühen, schmucklosen Gedichte im Nachkriegskargheitstonfall oder der ambitionierte Roman „Die Elephantenuhr“ aus dem Jahr 1973 sind neben seiner Gründungs-, Organisations- und Förderungsarbeit und den streitbaren Essays wohl weniger bedeutend. Seinen Nachlass, Korrespondenzen mit Autoren von A wie Andersch bis Z wie Zwerenz vermachte er dem 1977 von ihm gegründeten Literaturarchiv in seiner Heimatstadt. So steht Sulzbach-Rosenberg tatsächlich im Mittelpunkt einer Welt. Walter Höllerer starb am Dienstag im Alter von 80 Jahren in Berlin. JÖRG MAGENAU