Mao kann tanzen

Zwar gewinnt den WM-Paarlauf mit Tatjana Totmianina und Maxim Marinin ein russisches Paar, den Ton aber geben die Chinesen an

Die Note für den künstlerischen Wert war lange Zeit das große Dilemma der Chinesen

AUS DORTMUND MATTI LIESKE

Beim Paarlaufen ist es inzwischen fast wie beim Tischtennis. Wohin man blickt, überall Chinesen, vorzugsweise auf den vorderen Plätzen. Drei chinesische Paare tummelten sich bei den Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften nach der Kür unter den ersten fünf, kleiner Fauxpas: Ausgerechnet die Goldmedaille ging an das russische Kringelduo Tatjana Totmianina/Maxim Marinin. Den hässlichen Schönheitsfehler hatte Hongbo Zhao auf dem Kerbholz, der sich im Kurzprogramm „dumme Fehler“, wie er sie nannte, geleistet hatte und darüber „zwei Tage lang völlig deprimiert“ gewesen war. Die formidable Kür der Titelverteidiger Shen/Zhao, die danach mit 6,0-Noten förmlich zugeschüttet wurden, reichte nach Platz vier bei der Kurzkür nur noch zu Silber, da das russische Paar „die Gunst der Stunde“ (Marinin) mit einer fehlerfreien Darbietung nutzte, die jener der Chinesen nur wenig nachstand. „Wir wussten, dass der Champion nicht wir sein würden“, erklärte Zhao anschließend in der Pressekonferenz, „für uns ging es heute nicht mehr um Platzierungen, sondern um das Glücksgefühl schönen Eislaufens.“

Weniger poetisch äußerte sich seine Partnerin Xue Shen, die bewies, dass sie den sanften Trash Talk, der bei den Eislaufpaaren grassiert, nach zehn Jahren in der Weltspitze bestens beherrscht. „Ich finde, wir haben gewonnen“, sagte sie kategorisch, was nicht sehr höflich gegenüber den russischen Konkurrenten war, die just in diesem Moment den Raum betraten. Prompt wurde Tatjana Totmianina gefragt, wie sie sich denn mit der Goldmedaille fühle, wo doch die anderen so viele Höchstnoten bekommen hätten. „Ist das eine Frage an uns oder an die Preisrichter?“, gab sie spitz zurück.

Den chinesischen Beinahe-Sweep komplettierten die zukunftsträchtigen Nachwuchskräfte Dan Zhang (18) und Hao Zhang (19), zweifache Junioren-Weltmeister, mit Rang fünf sowie Qing Pang und Jian Tong mit der Bronzemedaille. „In Dortmund hat unser Trainer Bin Yao 1980 zum ersten Mal China bei einer WM vertreten“, sagte der gesprächige Tong, „heute haben wir drei Paare unter den ersten fünf. Es ist offenbar ein Ort, der uns Glück bringt.“ Ganz so einfach liegen die Dinge natürlich nicht, ein bisschen mehr steckt schon hinter dem chinesischen Eislaufwunder. „Viel Arbeit“, werden die Aktiven nicht müde zu betonen, aber auch ein entsprechendes Förderungssystem mit Sportschulen und Leistungszentren, das die kontinuierliche Popularisierung des Eislaufens kanalisiert. Zu dieser hat neben Trainer Bin Yao, der sich nach seiner aktiven Zeit vor allem der Entwicklung des Paarlaufs widmete, besonders Lu Chen beigetragen. Viele der jüngeren Läuferinnen und Läufer im heutigen chinesischen Team erklären, dass das leuchtende Vorbild der Weltmeisterin von 1995 sie zum Eiskunstlaufen animiert habe.

Hochburg des Sports ist die Fünfmillionenstadt Harbin im Norden an der sibirischen Grenze, wo die meiste Zeit Winter ist, und wenn es mal nicht Winter ist, dann wird es gerade Winter. So ungefähr schildert es jedenfalls Zhemin Yin, leitender Funktionär im chinesischen Eislaufverband. Fünf Eislaufhallen gibt es in Harbin, nahezu alle in Dortmund anwesenden Läufer stammen aus der Provinz. Trainiert wird allerdings in Peking, wo die Bedingungen für die Spitzenathleten besser sind. Sie wohnen zusammen im Sportlerwohnheim, essen zusammen, verbringen ihre Freizeit zusammen und profitieren sportlich voneinander. „Wir haben viel von Shen/Zhao gelernt“, erläutert Jian Tong, „aber wir nehmen uns auch ausländische Paare zum Vorbild.“ Inzwischen werden sogar Choreografen aus Russland oder USA hinzugezogen, um an der künstlerischen Komponente zu feilen.

Die Note für den künstlerischen Wert war lange Zeit das große Dilemma, auch für Xue Shen und Hongbo Zhao, die längst Publikumslieblinge waren, als sie von den Preisrichtern mittels B-Note immer noch gnadenlos heruntergewertet wurden. Tatsächlich stellten sie, als sie Mitte der Neunziger die internationale Bühne betraten, mit ihrer athletischen Verbissenheit zunächst eine Art frostige Mischung aus Maos langem Marsch und chinesischem Staatszirkus dar. Im Laufe der Zeit wandten sich aber auch die chinesischen Eisläufer zunehmend dem russischen Bolschoiwismus zu, passten ihre Interpretation und Musikauswahl den internationalen Standards an und bauten langsam die Vorurteile der Preisrichter ab. Auf dem Trainingsplan stehen, wie Tong verrät, mittlerweile auch klassischer und moderner Tanz, in Dortmund erhielten alle drei chinesischen Paare exzellente Wertungen gerade für die künstlerische Präsentation.

Die Weltmeisterschaft Deutschland, die wie auch die großen Grand-Prix-Veranstaltungen live in ganz China im Fernsehen übertragen wird, dürfte zu einer weiteren Bedeutungssteigerung des Eiskunstlaufens im Land beitragen, auch wenn es mit dem dritten Titel in Folge für Shen/Zhao nicht klappte. „Mehr Popularität, mehr Fans in der Regierung, mehr Unterstützung“, bringt es Zhemin Yin auf den Punkt. Für das Jahr 2007 hat sich China um die Austragung der Weltmeisterschaft beworben, der Grand-Prix, der einst in Gelsenkirchen stattfand, ist bereits nach Peking gewandert. Olympisches Gold 2006 in Turin ist fest eingeplant, für Xue Shen und Hongbo Zhao, die dann 27 und 32 Jahre alt sein werden, könnte es der passende Abschluss ihrer wegweisenden Karriere sein. In ihrer Heimat sind die beiden bereits jetzt sportliche Superstars. Bei den chinesischen Eislaufmeisterschaften in ihrer Heimatstadt Harbin mussten Shen und Zhao die Kabine durch ein Fenster verlassen, weil der Eingang von Unmengen Fans blockiert war. So etwas verpflichtet, weshalb nicht nur die Depression verständlich ist, die Zhao angesichts des missratenen Kurzprogramms packte, sondern auch seine Kampfansage nach der fast perfekten Kür: „Wir können noch viel besser.“