: berliner szenen Einfach mitsingen
Einfach durchdrehen
Wahrscheinlich gehen sie bei den großen Konzerten in der Menge unter. In den kleinen Clubs kann man sie dagegen gar nicht übersehen. Sie sind keine Fans und keine Groupies. Sie sind nicht wegen der Band gekommen. Sie kennen noch nicht einmal besonders viele Leute im Publikum. Sie wollen einfach nur ein bisschen durchdrehen. Einer von ihnen ist heute auch im Duncker. Er ist Ende zwanzig, hat kurz geschorene Haare, trägt Jeans und eine etwas zu große Windjacke. Seine ersten drei, vier Becks hat er schon heruntergestürzt, bevor das Konzert überhaupt angefangen hat. Das Konzert? The Candies spielen, eine kleine, schmutzige Garagenband aus Norditalien mit einem Faible für Post-Punk-Coverversionen von Tears-for-Fears-Klassikern. Aber ihm ist das alles egal.
Er liest keine Zeitschriften, und er kauft keine CDs. Dafür singt er gleich den ersten Song mit, obwohl er ihn heute Abend garantiert zum ersten Mal hört. Als der Sänger „come closer“ ins Mikrofon brüllt, wirft er sich nach vorne und versucht ihn zu küssen. „Not that close.“ Er hat irgend eine Botschaft für die drei Jungs, die da oben auf der Bühne stehen und gerade „Bass Line for your Fucking Grave“ spielen. „Thank you“, sagt der Sänger und möchte, dass jetzt alle tanzen. Die Candies haben in Köln und in Frankfurt gespielt, und da war irgendwie mehr los im Publikum: „Hallo, Berlin?“ Berlin tanzt heute nicht. Dafür dreht der Typ mit den kurz geschorenen Haaren und der Windjacke noch ein bisschen mehr durch. Eine gute halbe Stunde dauert das Konzert. Zu kurz eigentlich. Nach der Zugabe läuft er nervös vor der Bühne auf und ab. Für einen kurzen Moment greift er blindlings über das Keyboard in die Tastatur. Es klingt nicht einmal schlecht.
KOLJA MENSING