: Gedichte wie Lava
Bei „Emily on the rocks“ im Podewil darf Dickinsons Dichtersprache glühen in ihrer Rätselhaftigkeit
Je mehr Gedichte aus der Stille steigen, desto gemütlicher lümmelt sich das Publikum im Podewil: Sitzt auf dem Teppich, streckt die Beine, legt sich flach, kuschelt sich an und versucht so, mit den Augen nach allen vier Seiten des Raumes zu schielen. Schrift fließt über alle Wände, Tänzerinnen schreiben wie mit den Gesten der Taubstummen Chiffren in den Raum und auf einer Wand erscheinen Bilder, die das Außen nach innen bringen – von der Straße und der Baustelle hinter dem Podewil. Irgendwann hat man einen steifen Hals und hört im Sitzen weiter zu. Gewidmet ist diese Rauminstallation der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson, die zu ihren Lebzeiten (1830–1886) nur zehn Gedichte veröffentlichen konnte, aber über 1.700 der Nachwelt hinterließ. Wie im Meer versunkene Schätze tauchen sie in der Performance an die Oberfläche. „Meine Augen haben die Farbe von Sherry, den die Gäste im Glas ließen“, beschrieb sie sich, und sherrytrunken ist die Stimmung dieser Nacht. Ein vulkanisches Grollen begleitet die Zeilen, die lose und unverbunden auf die Zuhörer herabregnen. „Sie sprechen von Unsterblichkeit. Das ist das Überschwemmungsthema.“ Dickinsons Sprache darf glühen in ihrer Rätselhaftigkeit, von der Einsamkeit der Dichterin wie von Muschelschalen umschlossen. Der Tanz und die Bilder liefern weder Erklärungen noch Illustrationen – aber wie die Gedichte selbst rufen sie eine Stimmung der Gleichzeitigkeit hervor, ein Nebeneinander von mikroskopischen Beobachtungen und kosmischen Bewegungen. Wer Emily Dickinson war, weiß man nach diesem Abend, den Penelope Wehrli inszeniert hat, noch immer nicht. Aber wie ihre Gedichte sich anfühlen, das schon. KBM