: Einer flog über die Hängematte
AGENDA 2010 (I): Die rot-grüne Regierung könnte eine Million Arbeitsplätze schaffen. Doch sie schikaniert die Langzeitarbeitslosen, statt eine umfassende Reform zu wagen
Kopfnicker seid ihr mit mir. Ja, ja! Bleibt in Bewegung und checkt den Shit hier.Massive Töne
Aus der Sicht eines Personalchefs habe ich alles falsch gemacht. Zu lange studiert (19 Semester), das Falsche (Philosophie), kein Auslandsaufenthalt usw. Nach dem Studium kam die Quittung prompt: „… bitten wir Sie um Verständnis, dass wir Sie unter den ca. 1.200 Mitbewerbern nicht in die engere Wahl ziehen konnten“.
Was macht ein frisch gebackener Philosoph, um dem sozialen Todesurteil zu entgehen? Sozialhilfe beantragen? Nein. Er reduziert seine Ansprüche, er wird mobil und flexibel, er gründet eine Ich AG. Damals übrigens noch ganz ohne Fördergelder.
So arbeitete ich für 8 Euro brutto die Stunde als freiberuflicher Telefonist, schrieb Werbetexte für ein Honorar, das ich vor Gericht einklagen musste. In meiner Not stieg ich schließlich als freiberuflicher Verkäufer in ein Immobilienbüro ein, wo ich mich in bester Gesellschaft befand: mit einem früheren Abteilungsleiter, einer ehemaligen Geschäftsführerin und einer Architektin. Da ich in den ersten Monaten trotz einer 50-Stunden-Woche überhaupt nichts verdiente, half mir der Büroleiter mit zinslosen Darlehen aus, die mit „zu erwartenden Provisionseinkommen“ verrechnet wurden. Ich zahlte also meine Miete, indem ich mich bei meinem Chef verschuldete. So konnte ich beim Abbau meiner Vollkaskomentalität gute Fortschritte erzielen. Zwar avancierte ich zuletzt doch noch zum „festen freien“ Marketingleiter. Doch dann teilte mir der Bürochef mit, dass er mir ab sofort keine Aufträge mehr erteilen könne. Die Immobilienkonjunktur …
Das war das Ende meiner Ich AG. Ohne Honorar, ohne Rücklagen, ohne Vermögen war das Sozialamt mein letzter Rettungsanker vor der Schuldenfalle. So landete ich also doch noch da, wo nach dem Willen der Bundesregierung hunderttausende ältere Langzeitarbeitslose demnächst ebenfalls landen sollen.
Auf die Gefahr hin, dass Sie Ihren Job sofort an den Nagel hängen, möchte ich Ihnen die Ausstattung meiner Komfort-Hängematte nicht vorenthalten. Das Sozialamt übernahm: 1. meine Kaltmiete (209 €), 2. meinen Krankenversicherungsbeitrag (144 €), 3. den erweiterten Regelsatz zur Auszahlung (331 €). Von diesem Auszahlungsbetrag musste ich Strom- und Heizkosten sowie erhebliche Telefongebühren, etwa für Online-Bewerbungen, selbst tragen. Nach Abzug aller Kosten standen mir ca. 240 Euro im Monat oder 8 Euro täglich zur Verfügung. Und während sich halb Deutschland beim jährlichen Flug in die Sonne davon erholte, von mir ausgebeutet zu werden, stellte ich mir die Frage, ob ich mir ausnahmsweise die Büchse Linseneintopf mit Rauchspeck zu 59 Cent gönne oder doch wieder die Ravioli mit Tomatensoße zu 39 Cent.
Dieses Leben wie eine Made im Rauchspeck können wir uns natürlich nicht länger leisten. Heute, wo ich als 39-jähriger Angestellter zum ersten Mal ziemlich genau einen Durchschnittsverdienst erziele, sind mir die finanziellen Belastungen der Leistungsträger schmerzlich bewusst. So kostete mich die letzte Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge unverschämte 5 Euro pro Monat. Ich fühle mich als Melkkuh der Nation. Sogar der Dienstwagen wäre fast eine Nummer kleiner ausgefallen. Zwar müssen wir alle den Gürtel enger schnallen, aber doch bitte nicht bei den elementaren Dingen. Warum sollen ältere Langzeitarbeitslose Rauchspeck essen, wenn es auch Ravioli gibt? Höchste Zeit, das Arbeitslosengeld II einzuführen!
Aufgrund meiner Erfahrungen als Exfaulenzer und Arbeitsamtskunde möchte ich drei knallharten Forderungen formulieren:
Erstens fordere ich die Regierung auf, die Lohnnebenkosten weiterhin nicht radikal zu senken, sondern wie bisher symbolisch an der Zehntelprozentschraube zu drehen. Wie geplant, muss der organisierte Stillstand von denen bezahlt werden, die am wenigsten in der Tasche haben. Nur so kann eine Maßnahme, die erwiesenermaßen keinen Arbeitsplatz schafft, zum Kriterium der Reformfähigkeit aufgeblasen werden.
Früher war ich noch so naiv zu glauben, die rot-grüne Regierung würde einen echten Systemwechsel anstreben, also weg vom Auslaufmodell des beitragsfinanzierten Sozialsystems hin zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung. Schließlich hat das DIW im Auftrag des Spiegel kürzlich berechnet, dass die Lohnnebenkosten, die heute 42 Prozent des Bruttolohns ausmachen, durch einen solchen Systemwechsel auf fantastische 5,5 Prozent abgesenkt werden könnten. Dieser Befreiungsschlag für alle Unternehmen würde laut DIW eine Million Vollzeitjobs bringen.
Statt eine immer kleinere Zahl von Beitragszahlern immer stärker zu belasten, könnte zudem die Finanzierung des Sozialstaats auf eine breite Grundlage gestellt werden, weil Beamte, Freiberufler und Vermögende ihren steuerlichen Beitrag leisten müssten. Doch angesichts der zu erwartenden Widerstände ist dies natürlich eine Schnapsidee. Es fällt viel leichter, sich mit der Union darauf zu einigen, dass man älteren Langzeitarbeitslosen finanziell in den Hintern treten muss. Schade, dass am Ende dieses Prozesses keine Fusion der beiden Volksparteien zur „Spezialdemokratischen Partei Deutschlands“ geplant ist.
Zweitens fordere ich von den Grünen, die jährlich anfallenden 1,8 Milliarden Überstunden, die viel zu geringe Teilzeitquote und die grundsätzliche Reflexion auf die Zukunft der Erwerbsarbeit weiterhin konsequent aus der Diskussion herauszuhalten. Zwar bin ich Familienvätern begegnet, die ihren 70-Stunden-Job aufgegeben haben, um sich ihren Kindern widmen zu können. Zwar fühlen sich zahllose Ehefrauen in den Einfamilienhaussiedlungen als allein erziehende Mütter, weil die bessere Hälfte bis zum Umfallen schuftet, während sie selbst keinen qualifizierten Teilzeitjob finden. Zwar könnten die 60 Milliarden Euro, die uns die Finanzierung der Arbeitslosigkeit jährlich kostet, dazu verwendet werden, die vorhandene Arbeit kostenneutral auf mehr Köpfe zu verteilen. Doch: Warum sollten sich die Grünen bei diesem konfliktträchtigen Thema aus dem Fenster lehnen, wenn eine solide Außen- und Umweltpolitik zum Machterhalt völlig auszureichen scheint? Demnächst vielleicht sogar mit der Union. Da können sich alle Arbeitslosen jetzt schon freuen.
Zuletzt appelliere ich an die großen Unternehmen, Leuten wie mir auf gar keinen Fall eine Chance zu geben. Investieren Sie das Geld lieber in Kampagnen, in denen von Innovation, Mut und der Bereitschaft, neue Wege zu gehen, die Rede ist. Zur Ausarbeitung entsprechender Strategien stehe ich Ihnen als Account-Manager einer Werbeagentur gerne zur Verfügung. Auf einen geldwerten Vorteil müssen Sie allerdings verzichten: Arbeitsmarktexperten wie mich braucht man nicht mehr zwecks Selbsterfahrung zum Feuerlaufen nach Fuerteventura zu schicken.
LARS RIEBOLD