: Der Blick nach Kioto vernebelt
Einen Rückschritt nennen Umweltschützer den Kompromiss zum Klimaschutz. Um die Kioto-Ziele zu erreichen, sind nun Verbraucher und Verkehr gefragt
VON BERNHARD PÖTTER
Der Zeitpunkt war gut gewählt: Gestern veröffentlichte das Freiburger Öko-Institut ein Gutachten, nach dem der umstrittene Braunkohle-Tagebau in Garzweiler II überflüssig sei. Mittel- bis langfristig verliere die klimaschädliche Braunkohle an Bedeutung, erklärten die Energieexperten.
Der Kompromiss um den Emissionshandel zwischen Umweltminister Jürgen Trittin und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement bestätigt das Öko-Institut – aber nur in diesem Punkt. Ansonsten läuft die Einigung für die Umweltverbände in die falsche Richtung. Und entbindet die deutsche Wirtschaft faktisch von einem großen Teil ihrer Versprechen zum Klimaschutz.
Denn vor drei Jahren wollte die Wirtschaft vor allem eines verhindern: eine Quote auf Strom aus der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung. Deshalb, so die Wirtschaftsverbände, würden die Unternehmen bis 2010 insgesamt 35 Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen. Seit gestern, monieren Experten, sind das nur noch 13 Millionen.
Denn der Kompromiss zwischen Trittin und Clement, den beide am frühen Dienstagmorgen gefunden hatten, reduziert die Verpflichtung der Wirtschaft zum Klimaschutz. Er bürdet einen Teil dieser Anstrengungen den privaten Haushalten und dem Verkehrssektor auf. Er sorgt andererseits dafür, dass alte Braunkohlekraftwerke, die extrem viel Klimagas CO2 ausstoßen, demnächst stillgelegt werden. Insgesamt aber wird es nun nach Meinung von Experten und Umweltverbänden deutlich schwieriger, Deutschlands Verpflichtung zum Klimaschutz aus dem Kioto-Protokoll zu erreichen.
Kernstück des Kompromisses ist das Zugeständnis, dass Industrie und Kraftwerke mehr CO2 ausstoßen dürfen als geplant. Sie bekommen zwischen 2005 und 2007 Verschmutzungslizenzen für den EU-weiten Emissionshandel (siehe Kasten) für insgesamt 503 Millionen Tonnen jährlich. Bis 2012 sinkt die Menge auf 495 Millionen Tonnen. Trittin, der ursprünglich nur 480 Millionen Tonnen zugestehen wollte, nannte die Einigung einen „schwer erarbeiteten, aber vertretbaren Kompromiss“. Zertifikate für 61 Millionen Tonnen CO2 jährlich bekommen Unternehmen, die das Abgas nicht bei der Verbrennung, sondern bei ihrem Betrieb erzeugen – also etwa in den Branchen Stahl, Glas und Zement. 80 Millionen Tonnen werden Unternehmen zugestanden, die ihre Kraftwerke vor 1997 modernisiert haben, und jeweils 1,5 Millionen Tonnen pro Jahr bekommen die Energiekonzerne für den Atomausstieg oder Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung.
Wichtig für Trittin und für Experten der „einzige Lichtblick in diesem desaströsen Ereignis“ ist die „Übertragungsregel“ für alte Kraftwerke: Wer ein marodes Kohlekraftwerk schließt, bekommt dessen Emissionsrechte für vier Jahre, um damit zu handeln oder ein neues, effizienteres Kraftwerk zu bauen. Gradmesser ist ein Steinkohlekraftwerk nach heutigem Stand der Technik. Der Anreiz dafür ist nach Meinung des Umweltministeriums gewaltig: 15 bis 55 Millionen Euro im Jahr könnte ein Unternehmen sparen, wenn es eine Dreckschleuder abschaltet.
„Wir erreichen die deutschen Klimaschutzziele“, sagten gestern Trittin und Clement. Trittin rechnet so: Bis zu den 846 Millionen Tonnen CO2, die Deutschland bis 2012 nur noch ausstoßen darf, müssen noch 17 Millionen Tonnen reduziert werden. Der aktuelle Kompromiss sieht vor, dass Industrie und Energiewirtschaft 10 Millionen Tonnen sparen. Die verbleibenden 7 Millionen müssten von Verkehr und Haushalten kommen – „business as usual“, heißt es im Hause Trittin.
Das sehen Umweltschützer anders. Da die Basisjahre 2000–2002 warme Jahre gewesen seien, müsse man anders rechnen, sagt etwa Felix Matthes vom Öko-Institut. Dann fehlen nicht 17, sondern 32 Millionen Tonnen bis zur Kioto-Schwelle. 22 Millionen davon müssten anderweitig erbracht werden – „bei der Wärmedämmung in Haushalten kostet das bis zu 3 Milliarden Euro pro Jahr.“ Auch beim Verkehr müsse man „richtig zulangen“. Sonst, so Matthes, „verfehlen wir die Vorgaben von Kioto“.
Für Germanwatch ist die Einigung schlicht ein „Kniefall vor der Industrielobby“, die eine Wende in der deutschen Klimapolitik einleite. Für WWF-Expertin Regine Günther hat der Deal den „Emissionshandel de facto kastriert“. Geschützt würden die „Industrien des 19. Jahrhunderts“, weil der Standard für neue Kraftwerke auf dem heutigen Stand für 14 Jahre festgeschrieben werde: „Das ist kein Anreiz für Innovationen in die Effizienz der Kraftwerke.“
Immerhin kann der Klima-Deal nun fristgerecht zum 31. März bei der EU-Kommission in Brüssel angemeldet werden. Dort wird Deutschland trotz des schweren Kompromisses als Musterschüler dastehen, ist sich die Regierung sicher. „Fast alle anderen EU-Länder melden doch keine Reduktion wie wir, sondern sogar noch Zuwächse“, heißt es von den Verhandlern.
Der Trick aus Sicht von Rot-Grün: Die anderen Staaten prognostizieren hohe CO2-Zuwächse und versprechen dann, diesen Zuwachs zu begrenzen – absolut liegen sie aber weit über ihren nationalen Reduktionszielen. Österreich beispielsweise hat verkündet, die Reduktion vor allem beim Verkehr zu erbringen. „Die müssten eigentlich ihre Autobahnen dichtmachen“, spottet man darüber in Berlin. Andererseits gewährt Wien etwa der Stahlindustrie einen CO2-Zuschlag von etwa 10 Prozent. Grund genug für den Wirtschaftsminister, nach Kompensation für die deutsche Stahlbranche zu verlangen – und sie zu bekommen.