: Gegen die Krankheit der 1.000 Gesichter
Das erste interdisziplinäre Institut für Multiple-Sklerose-Forschung in Deutschland wurde gestern in Göttingen eröffnet. Auf Stiftungsprofessor Gold und seinen Mitarbeitern lastet der Erwartungsdruck von 2,5 Millionen MS-Patienten
Aus GöttingenKai Schöneberg
„Unterhalb von drei Jahren ist geschwindelt“, sagt Ralf Gold und meint damit, dass erste Ergebnisse seines neuen Instituts im Kampf gegen Multiple Sklerose (MS) vorher kaum zu erwarten sind. Immerhin wird seit etwa hundert Jahren versucht, eine Therapie gegen MS zu entwickeln – bislang ohne großen Erfolg. Der besteht also schon darin, dass gestern in Göttingen das deutschlandweit erste interdisziplinäre Institut für Multiple-Sklerose-Forschung eröffnet wurde. Der 43-jährige Neurologe, der für die Stiftungsprofessur aus Würzburg nach Göttingen kam, ist natürlich „stolz“ auf seine Berufung – „aber es gibt auch Erwartungsdruck“.
Da ist die Erwartung der Göttinger Uni-Klinik oder die der Hertie-Stiftung, deren 4,6 Millionen Euro das Zentrum überhaupt erst möglich machten – und die Erwartung von 2,5 Millionen MS-Patienten auf der Welt, davon die meisten in Europa und den USA. Meist fängt es mit Sehstörungen oder kribbelnden Gliedmaßen an, am Ende der rückenmark- und hirnzerfressenden Krankheit stehen häufig Rollstuhl, Spasmen, Koordinationsprobleme, Blasen- oder Darmstörungen. Der C4-Professor spricht von der „Heterogenität von MS“, ihren vielen Ausprägungen, andere von der „Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“.
Die chronische Entzündung des zentralen Nervensystems gilt bis heute als mysteriöse Krankheit. Man nimmt an, dass es eine gewisse genetische Veranlagung gibt: Bei eineiigen Zwillingen leiden in 30 Prozent der Fälle beide Geschwister an MS. Außerdem glauben die Forscher, dass die Belastung des Immunsystems in der Jugend für die spätere Entwicklung bedeutsam ist.
Göttingen hat eine lange Tradition in der Therapierung von MS. Weil das so ist, wurde die Einweihung des Zentrums auf den 90. Geburtstag des Nestors der deutschen MS-Forschung, den Göttinger Helmut Bauer, gelegt. Die von ihm eingerichtete Selbsthilfegruppe, in der Patienten mit Ergo- oder Physiotherapie behandelt werden, besteht heute noch.
„Das waren die Mittel der Zeit“, sagt Gold. Seit etwa zehn Jahren gibt es Medikamente (Interferone), die den Zustand von schubartig verlaufender MS vor allem in ihrem frühen Stadium recht gut eindämmen können. Gold will in einem ersten Schritt Cortisonpräparate entwickeln, mit denen MS noch zielgenauer gebremst werden soll: „Wir rechnen damit, dass wir in fünf Jahren die ersten Patienten damit behandeln können.“
Nein, hier bei den 400 Mäusen sollten wir „besser“ nicht fotografieren – wegen der Tierschützer. Dabei sei die Unterbringung der Tiere „wie im Fünf-Sterne-Hotel – mit Klimaanlage“, betont der Professor. „Die Haupt-Mäusehaltung“ sei allerdings „drüben in den Kliniken“, sagt er weiter und verschweigt nicht, dass auch die Affen im Göttinger Primatenzentrum für Versuche gebraucht werden, um „die Lücke zwischen Maus und Mensch zu schließen“.
Mit Mäusen, Primaten und vor allem mit bald 15 Mitarbeitern – will der Professor in Göttingen ein „Center of Excellence“ etablieren – ein Teil der Einlösung des Kanzlerwortes von den Eliteunis. „Die deutschen Universitäten werden es nie schaffen, insgesamt an Yale oder das Massachusetts Institute of Technology heranzukommen“, sagt Gold. Allerdings erreiche Göttingen mit seinem MS-Zentrum im Bereich der neurologischen Forschung Weltklasse. Durch den Verbund mit Neuroimmunologen, Neurobiologen, Experimentellen- und Biomedizinern von zwei Max-Planck-Instituten, dem European Neuroscience Institute (ENI), Forschern der Uni Bonn, der Berliner Charité und eben auch dem Primatenzentrum soll das MS-Zentrum Spitzenforschung hervorbringen. Gold: „Wenn Sie zwei Hände haben, sind wir weltweit schon bei der ersten Hand mit dabei.“
Zwei seiner Freunde litten unter MS, sagt Golds Stellvertreter Fred Lühder – und kommt damit auf einen weiteren wichtigen Teil der Geschichte zu sprechen. „Die Krankheit spielt jedoch für unsere Beziehung keine Rolle“, betont Lühder. „Wichtig ist es doch, die Leute aus ihrer Isolation herauszuholen“.