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Archiv-Artikel

Feuer, die entzündet werden wollen

Waldorflehrer Arnold Ibing erzählt von seiner Arbeit: Hintergründe des Lehrplans, Schulalltag im Unterricht und organisatorische Besonderheiten

taz: Herr Ibing, was ist das Besondere an der Waldorfpädagogik gegenüber anderen Ansätzen?

Arnold Ibing: Wir wollen nicht nur abstraktes, intellektuelles Denken fördern, sondern beziehen Seele und Körper, Gefühls- und Willensschulung mit ein. Dadurch wird auch die soziale Verantwortlichkeit in das Lernen einbezogen. Deshalb bleiben handwerklicher und künstlerischer Unterricht bis zur 12. Klasse ein wichtiger Bestandteil des Lehrplans. Sie sollen ganzheitliches Erleben und Lernen mit allen Sinnen ermöglichen und die Wechselwirkung zwischen Geist, Seele und Körper lebendig halten. Neben Sport wird Eurythmie als zweites Bewegungsfach unterrichtet.

Warum sind diese dem Ausdruckstanz ähnlichen Übungen so wichtig für den Lernprozess der Schüler?

Bei der Eurythmie werden Lauten und Tönen Bewegungen und Gesten zugeordnet. Indem diese Bewegungen ausgeübt werden, erhalten die Schüler nicht nur ein bewusstes Körpergefühl. Der Zugang zu den Inhalten von Sprache und Musik umfasst alle Sinne. Beim gemeinsamen Bewegen mit anderen wird zugleich auch die individuelle Rolle innerhalb einer Gruppe und damit Teamfähigkeit geübt. Also auch soziales Zusammenspiel wird erlebt und kann gestaltet werden.

Aber der gesamte Unterricht wird nicht ausschließlich über Bewegung und Sinnlichkeit getragen. Auf was wird darüber hinaus geachtet?

Auch die Struktur der Unterrichtseinheiten ist anders organisiert: Im so genannten Epochenunterricht etwa werden die Hauptlernfächer über drei bis vier Wochen an jedem Morgen eindreiviertel Stunden unterrichtet. Durch diese Intensität ist es möglich, den Stoff mit den Schülern lebendig durchzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten bekommt eine andere Qualität.

Was machen Handwerk und Kunst so bedeutend im Lehrplan?

Das Material, mit dem die Schüler arbeiten, wird zum Lehrmeister. Zum Beispiel die Aufgabe, aus einem Holzblock eine Schale zu formen: Wochenlang muss dafür das Material bearbeitet werden. Mit verschiedenen Techniken. Dabei ist Geduld gefragt. Wenn Sie in der Endphase einen Wutanfall bekommen, kann im schlimmsten Fall alles hin sein. Dann wäre alle Arbeit umsonst gewesen. Man lernt also im besten Falle dabei nicht nur Handwerkliches, sondern auch sich selbst auf seine Aufgabe und das Material einzulassen.

Funktioniert Waldorfschule auch sonst anders?

Es fängt schon damit an, dass die Schüler den Unterrichtsstoff immer wieder selbstständig durch das Schreiben von Aufsätzen darstellen müssen. Und auch im Lehrerkollegium spielt Selbstständigkeit eine große Rolle: Statt eines Rektors, der die Chefrolle einnimmt, haben wir eine kollegiale Verwaltung. Jede Waldorfschule ist autonom, ihr Curriculum selbst zu verändern. So ist es möglich, den Unterricht an den Schülern zu korrigieren und lebendig zu erhalten.

Und allein der lebendige Unterricht weckt die Fähigkeiten der Schüler?

Als Lehrer muss ich das Verhalten der Schüler im Unterricht genau beobachten und mir nahe gehen lassen. Dabei stellt sich die Frage: Wem gebe ich welche Aufgaben, um welche Fähigkeiten zu wecken? Wir haben ein Wort von Rabelais an den Anfang unseres Schulprospekts gesetzt: Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entzündet werden wollen.

INTERVIEW: LARS KLAASSEN

Fotohinweis: DR. ARNOLD IBING, Waldorfschule Kreuzberg, lehrt Geschichte und Sozialkunde.