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Archiv-Artikel

Der Kult um den Schniedel-Mann

Neben Comics, Spitzen, Schokolade, Fritten begegnet man in Brüssel überall dem Manneken Pis. Der pinkelnde Jüngling kommt auch als Schokolade oder Spitze daher. Annäherung an das männliche Wahrzeichen der belgischen Hauptstadt

Ein Sinnbild der Unbotmäßigkeit mit lebenslanger Inkontinenz Manneken, mit einer weißen Diskomontur ausstaffiert als Elvis Presley

VON JOHANNES WINTER

Ein draller Knabe mit einer dünnen Fontäne vor dem Bauch, an dem sich das Publikum nicht satt sehen kann – der Brunnen in Brüssel ist immer umlagert. Manneken Pis heißt sie in ihrer Heimatstadt, die Brunnenfigur in Pinkelpose. Würde man eine Rangliste prominenter Freiluftskulpturen aufstellen, so hätte Manneken ohne Zweifel einen Platz in der Spitzengruppe. Die Brüsseler schätzen in Manneken Pis ihren ältesten Mitbewohner. Bei ihnen ist der kleine Julian, so der ursprüngliche Name ihres „Ketje“, das beliebteste Requisit der Stadt.

Noch nicht lange ist es her, dass er es zum Symbol und sogar zum Streitpunkt im europäischen Kulturkampf brachte. Des Knaben Beschäftigung avancierte zum ernsthaften Thema im Geschlechterstreit, in Brüssel mit Folgen. Manneken Pis wurde zwar nicht in die Knie gezwungen, aber seit den Achtzigerjahren muss der Solist mit einem Gegenbild leben. Seitdem gibt es Janneken Pis, sein sitzendes Pendant.

Aus dem feministischen Aufbegehren jener Jahre erwuchs diese Figur und erhielt einen eigenen Brunnen. Nun hockt die bezopfte Janneken ein paar Ecken entfernt so unschuldig wie Manneken und erleichtert sich vor aller Augen ins Becken.

Gleichberechtigung auf belgisch? Wie auch immer, die Popularität ihres Bruders geht der Kleinen bislang ab. Kein Wunder, ist er doch offiziell ungefähr 400 Jahre alt. Einer weiß es genau, Jacques Stroobants, Mannekens wichtigste Bezugsperson, der behauptet, sein Liebling sei sogar schon über 600 Jahre alt.

Wer früh aufsteht, kann Monsieur Stroobants begegnen, am ehesten kurz vor Morgengrauen. Zu dieser Stunde kommt der Mann im grauen Kittel gemächlich die Gasse entlang, öffnet das Gitter vor dem Brunnen und steigt auf seine Leiter. Dann dreht er dem Kerlchen das Wasser ab und geht an die Arbeit. Stroobants macht aus Manneken Pis einen feinen Pinkel.

Es ist nämlich so, dass es Tage gibt, da wird der Nackte eingekleidet. Dann erweist die Stadt solchen Zelebritäten wie Elvis Presley Reverenz, und Stroobants muss Manneken mit einer weißen Diskomontur ausstaffieren. Oder er ist der Jahreszeit entsprechend als Weihnachtsmännlein verkleidet und steckt in einer rotweißen Kluft – mit Schlitz, versteht sich. Oder er präsentiert sich, ganz unabhängig vom Kalender der Heiligen, als Cowboy, Dracula oder Samurai.

Stroobants hat schon ganze Busladungen von Japanern beobachtet, wie sie, das Blitzlichtgerät im Anschlag, tagelang mit wachsender Verzweiflung darauf warteten, Manneken endlich einmal unbekleidet zu sehen.

Jacques Stroobants fungiert als Herr über die Garderobe. Das Amt des Hofkämmerers ist es, das ihm die Kompetenz des Kleiderwechselns verleiht. Er kann auch Auskunft geben, was die genaue Zahl der Kostüme angeht: Zurzeit sind es exakt 727.

Der Fundus, sagt er, ist im Königshaus zu besichtigen, einem der Prachtgebäude am Grand Place, Brüssels guter Stube, einen Steinwurf weit vom Brunnen, wo auf knarrenden Dielen Vitrine neben Vitrine die buntscheckigsten Klamotten aus der Welt des Sports und der Arbeit, der Fantasie und der Uniformen birgt, belgisch nicht nur, sondern aus allen Gegenden des Globus.

Stroobants sagt’s und verschließt das Gitter wieder sorgfältig. Denn voriges Jahr war auch er an seine Grenzen geraten. Das war, als Friedensfreunde aus Anlass des jüngsten Irakkriegs die Weltgeschichte geradewegs auf den Schultern des Brunnenbuben abluden, sodass sein Nachname von „Pis“ zu „Peace“ mutierte. Auch diesmal graute der Morgen, aber es waren jugendliche Pazifisten, die sich an den Kleinen heranmachten und noch dazu seinen Lockenkopf mit dem Stirnband „Not in my name“ verzierten. Es war Stroobants wohl nicht unrecht, dass auch mal jemand anderes auf die Leiter stieg. Hat er doch noch einen zweiten Schatz zu hüten: die Legenden, die sich um Manneken ranken und die, wie es sich gehört, aus dessen inniger Verbindung mit der Geschichte Brüssels sprudeln.

Stroobants selbst war noch ein Kind, da überfielen die Deutschen das Land und besetzten Belgien. 1940 war das, und es ist ihm unvergesslich, wie die Brüsseler auch ihr Manneken in den Widerstand einbezogen. Nackt blieb er die Jahre über und sah schutzlos über die Besatzer hinweg, in stillem Protest, bis zur Befreiung.

Doch der Reihe nach. Als Geburtsjahr des modernen Manneken gilt das Jahr 1619, als sein Schöpfer der Bildhauer Jérôme Duquesnoy der Ältere. Gerade hatte die Epoche des Barock begonnen, und wer etwas auf sich hielt, fühlte sich dem Stil der neuen Zeit verpflichtet, auch Meister Duquesnoy, so dass von nun an ein Wonneproppen aus Bronze, schwarz getönt, den Brunnen hinter dem Grand Place schmückte. Warum aber „Pis“?

Es ist die Frage aller Fragen. Jacques Stroobants hat sie so oft gehört, dass er je nach Laune eine andere Legende zum Besten gibt. Eine Prise Moral gefällig? Da wäre der Brüsseler Burgherr, der mit einer benachbarten Schlossherrin fremdgeht und dessen Sohn dafür als Brunnenfigur büßen muss. Oder der Knabe, der, vom eigenen Bedürfnis übermannt, die Pforte eines Einsiedlers missbraucht und dafür bestraft wird – Manneken Pis als Sinnbild der Unbotmäßigkeit, vergolten mit lebenslanger Inkontinenz.

Was aber wäre der Schatz der Legenden ohne das Volk, in dessen Mitte der Brunnen seinen Dienst tut? Daran liegt Stroobants besonders, und er tischt eine Erzählung aus dem Alltag der Stadt auf, die von einem Vater handelt, dem während eines Volksfests sein Söhnchen abhanden kommt. Und wie er den Kleinen nach tagelangem Suchen just beim Blasenleeren findet und ihm vor lauter Freude und Dankbarkeit ein Brunnendenkmal setzt. Bevor unser Zerberus seiner Wege geht, um Madame Stroobants das abgetragene Kostüm seines Schützlings zum Reparieren auf die Nähmaschine zu legen, beendet er sein Kolleg mit einer nachgerade patriotischen Legende.

Es ist die vom kleinen Julian, der seine Vaterstadt vor einer Feuersbrunst bewahrte. Brüssel wird wieder einmal belagert, die Kanonen donnern, während der Knabe durch die Gassen streunt. Da entdeckt er eine glimmende Lunte, die der Feind am Stadttor angebracht hat. Wohl ahnt er die Gefahr, aber was soll er ohne Wasser tun? Julian behält einen kühlen Kopf und löscht die Lunte mit seinem Strahl. Seitdem hat Brüssel seine Ikone: ein pieselndes Kind als Retter der Stadt. Nicht von ungefähr führt er als Werbeträger der Stadt ein zweites Leben. Die umliegenden Gassen sind mit Kopien voll gestellt.

Das Männchen trifft man überall, auch als Leckerei geht man ihm auf den Leim. Sucht der Fremde nämlich nach den berühmten Spezialitäten wie Brüsseler Spitze oder belgischer Schokolade, dann zeigt ihm ein Rundblick bald, dass er umgeben ist von Schaufenstern, die tausendfach Manneken-Pis-Figuren aller Größen bevölkern, hergestellt eben aus Brüsseler Spitze oder belgischer Schokolade. Oder als Korkenzieher, militärisch aufgereiht in allen Größen und äußerst beliebt. Stumm betrachtet der Besucher die Auslagen und fragt sich, ob es hier überhaupt so etwas wie eine Manneken-freie Zone gibt.

In einer Stadt wie Brüssel ist es ein Leichtes, das Thema zu wechseln und – warum nicht – die EU-Kapitale als Comic-Dorado zu entdecken, als Heimstatt von Hergé, dem Schöpfer von „Tintin“ und „Tim und Struppi“. Mit Stolz nimmt Brüssel inzwischen sogar den Titel „Comic-Hauptstadt“ in Anspruch. Zum Beleg dafür wurde eigens ein Parcours durch die City geschaffen. Ihn säumen etwa dreißig Strips, wahre Wunder der Comic-Kunst, jeder haushoch auf eine Brandmauer gesprayt, zum Ergötzen der Fans, die flanierend bei ihren Lieblingen anstehen.

Auch Manneken Pis ist dabei. An einer Hauswand in der rue de Laeken. Diesmal hat er seinem Sockel den Rücken gekehrt, um die Passanten als Erz-Comic-Figur zu überraschen. Vor unseren Augen stemmt er gleich fünf bekannte Kollegen in die Luft, darunter die belgischen Stars Suske und Wiske und den Superhelden Wastel, hebt sie in die Höhe, jongliert mit den Figuren. Manneken als Kraftmeier, freilich ohne auch hier auf seine notorische Tätigkeit zu verzichten, in geradezu unverfrorener Manier. Es sprudelt aus ihm, dass wir nur staunen können, wie unbeeindruckt der ewige Wasserlasser die Seite gewechselt hat. Kein Zweifel, auch im Land der Sprechblasen führt er sich auf, als sei er hier immer schon zu Hause gewesen.Mag sein, dass Mannekens Vielseitigkeit einfach ein Zustand ist, in dem alles fließt.