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Archiv-Artikel

Die gefühlte Bedrohung

Der Kampf gegen den Terror bestimmt die Schlagzeilen – exzessive Polizeigewalt interessiert kaum noch. So opfert die Republik, was sie schützen will: den Rechtsstaat

Das Risiko, Terroropfer zu werden, ist geringer als die Risiken, die zu fettes Essen oder der Frühjahrsputz bergen

Unsere Polizei ist ein stets aktuelles innenpolitisches Thema, möchte man meinen. Welche Aktualität aber diskutiert wird, unterliegt politischen Diskurslagen, die bestimmen, was sagbar ist und was nicht. Was derzeit nicht sagbar ist, erfuhren Aktion Courage und amnesty international kürzlich. An zwei aufeinander folgenden Tagen legten die Organisationen umfangreiche Berichte zu exzessiver Polizeigewalt in Deutschland vor. Wir haben es, so die gemeinsame Botschaft, mit einem weiterhin ungelösten Strukturproblem zu tun, das in skandalöser Weise politisch ignoriert wird: Exzessive Polizeigewalt ist das wohl schwerwiegendste Menschenrechtsproblem in Deutschland. Die Polizei reagierte erwartbar heftig, Parteien und Regierung reagieren mau. Die Meldung strohfeuerte durch die Presse und war schon vor den TV-Abendnachrichten Asche.

Sicher, wir lesen zuweilen von Beamten, die beschuldigt werden, einen Menschen erschossen, einen Festgenommenen verprügelt, einen Ausländer rassistisch beleidigt zu haben. Meistens liegt die Tat lange zurück, die Staatsanwaltschaft hat also schleppend ermittelt. Und meistens lesen wir dann irgendwann – wenn überhaupt –, dass die beschuldigten Polizisten freigesprochen werden oder, öfter noch, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt hat, statt den Fall den Gerichten zuzuleiten.

PolizistInnen, die unverhältnismäßig Gewalt anwenden, und Staatsanwaltschaften, die unverhältnismäßig zurückhaltend damit umgehen, sind ein weit über das Einzelfallmaß hinausgehendes Problem. Seit Jahren. Polizeifunktionäre, Staatsanwälte und Kriminologen wissen das, sagen es aber nur, wenn kein Mikrofon in der Nähe ist. Das war schon immer so. Dieses Mal aber blieben die Mikrofone von allein weg. Rechtsstaatlich motivierte Kritik an solchen Strukturproblemen hat derzeit weder politisch noch medial einen Wert.

Woran liegt das? An Berichten zur Polizei mangelt es nicht: Der vor allem beamtenrechtlich relevante Hickhack um den zukünftigen Standort des BKA füllte über eine Woche lang die Spalten. Fahndung per SMS, Geheimdienstkooperationen, europäische Vernetzung – offenbar will die Politik derzeit über die Polizei allenfalls operativ reden. Und das politische Subsystem Medien salutiert.

Mit möglicher Folter und Terrorbekämpfung aufgewogen, wird Gewaltmissbrauch durch PolizistInnen derzeit politisch für zu leicht befunden. Nach den Anschlägen von Madrid fegt durch Europa der kalte Wind einer sehr einseitigen sicherheitspolitischen Diskussion. Hätte die Staatsanwaltschaft Frankfurt erst dann – und nicht schon drei Wochen vorher – Anklage gegen Frankfurts Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner erhoben, der einem Kindesentführer Folter androhen ließ – die Stimmen, die Folter zur Abwehr des Terrorismus erlauben wollten, wären wohl weitaus zahlreicher gewesen. Gleichwohl steht uns diese Diskussion erst bevor; eine Diskussion im Übrigen, die im Zusammenhang des „Antiterrorkampfs“ vielerorts schon von der Realität eingeholt worden ist.

Wir stehen mitten in einer Debatte darüber, ob Bürger- und Menschenrechte nicht ein Luxus vergangener Zeiten sind, der in Anbetracht des Terrorismus verzichtbar ist. Angesichts der angeblich existenziellen Bedrohung wird unverhältnismäßige Polizeigewalt zum Kollateralschaden.

Die politisch Verantwortlichen wissen, dass dem Terrorismus mit Waffen und Wanzen allein nicht beizukommen ist. Dennoch behandeln sie „Sicherheit“ als rein polizeilich-militärisches Problem. Vorschnell erstarb nach dem 11. September die Debatte um die Ursachen des Terrorismus. Dass sich al-Qaida nicht aus den Slums rekrutiert, sondern aus gebildeten und vielfach begüterten Kreisen, wischt nicht weg, dass es einen Zusammenhang mit dem ungelösten Nord-Süd-Konflikt gibt. Und: Zwei Drittel der Weltbevölkerung haben ein gänzlich anderes Sicherheitsproblem als wir. Die Sicherheit oder Unsicherheit dieser Mehrheit bestimmt vor allem, wie die Ernte ausfällt und der Weltmarktpreis, ob sie Zugang zu sauberem Wasser haben oder ob sie als Mädchen oder als Junge geboren werden. Das weltweit größte militärische Sicherheitsrisiko sind Klein- und Leichtwaffen, und zwar nicht in den Händen von Terroristen, sondern von regulären Armeen, Guerillaverbänden und marodierenden Banden. Diese Waffen töten Jahr für Jahr eine halbe Million Menschen. Das Risiko, Opfer des Terrorismus zu werden, ist dagegen weit niedriger als die Risiken, die zu fettes Essen, die Teilnahme am Straßenverkehr oder der Frühjahrsputz in sich bergen.

Auch wenn die gefühlte Bedrohung also weitaus größer ist: Die Unsichtbarkeit des Terrorismus, seine potenzielle Allgegenwart, die bislang Undenkbares in unsere Fußgängerzonen trägt und Unbeteiligte grausam beteiligt, die Ahnung, dass der Schrecken gerade erst beginnt – all dies verlangt nach Schutzmaßnahmen des Staates. Natürlich sollten Geheimdienste besser kooperieren und haben hier noch viel vor sich, zuallererst die eigenen Egoismen. Aber auf die Frage, wie Terrorismus zu bekämpfen sei, geben Politiker weltweit gefährlich eindimensionale Antworten. Für sie gilt als ausgemacht, dass wir jetzt für unsere Sicherheit Teile unserer Freiheit aufgeben müssen. Völlig unklar ist hingegen, was diese Politiker über biometrische Pässe hinaus politisch zu bieten haben. Was tun sie, um die Sicherheit der Bevölkerungen in jenen Ländern zu verbessern, aus denen die Terroristen stammen? Was tun sie, um die Zivilgesellschaften in islamisch geprägten Ländern zu stärken, da niemand besser als sie die Auseinandersetzung mit dem radikalen Islamismus führen kann?

Wir sind mitten in der Debatte, ob Bürger- und Menschenrechte nicht ein Luxus vergangener Zeiten sind

In einer Debatte mit Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm antwortete ihm die Menschenrechtsaktivistin Bianca Jagger kürzlich, dass es Generationen dauern könne, die Rechte zurückzuerobern, die Parlamente rund um den Globus in den zweieinhalb Jahren seit dem 11. September 2001 ihren Bürgern eilfertig entzogen haben und entziehen wollen. Diese sind schon jetzt eher gläsern denn geschützt vor staatlicher Willkür. In den Verhandlungen um die Ruine des Zuwanderungsgesetzes wird die Regierung als Nächstes zugestehen, dass Ausländer schon auf bloßen polizeilichen Verdacht hin, terroristische Gruppen oder Aktivitäten zu unterstützen, ausgewiesen und abgeschoben werden können. Dass, wenn es sich wirklich um Terroristen handelt, dieses St.-Florians-Prinzip wahrlich keine Antwort auf die Bedrohung gibt, ist unter den beunruhigenden Implikationen dieser Regelung nur die dümmste. Gerade wenn stimmen sollte, dass der islamistische Terror dem Westen einen Kulturkrieg aufzwingt, können wir nicht selbst an den Grundpfeilern der „westlichen Kultur“ sägen. Und die heißen primär Rechtsstaat und Menschenrechte. Alles zu versuchen, die Polizei noch konsequenter an diese Grundsätze zu binden, stärkt die Kultur, die Polizei und unsere Sicherheit.

DAWID DANILO BARTELT