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Archiv-Artikel

Ein amerikanischer Traum

DAS SCHLAGLOCH    von MATHIAS GREFFRATH

Ein „Global European Network“ – staatsfern und steuerfinanziert – könnte die Welt verändern

Was einmal die Sowjetunion als Gegenmacht zu Amerika gewesen ist, das ist heute die öffentliche Meinung der ganzen Welt. Daniel Barenboim

Auf der Bühne stand Ted Turner. Er sah sehr müde aus und sprach von der weltweiten Bewegung, die sich jetzt formiere. Überall gebe es Gruppen von Menschen, die nach neuen Werte lebten, Träger eines neuen universellen Bewusstseins. Sie zu einer globalen Allianz zu verbinden, müsse man die elektronischen Netze nutzen, die von der Wirtschaft, den Machthabern und den Medien aufgebaut würden.

Das war l986, in Hannover, auf dem Kongress „Geist und Natur“, zu dem die christdemokratische „Stiftung Niedersachsen“ Formel-1-Philosophen, -Naturwissenschaftler und -Gurus aus allen Weltregionen zusammengerufen hatte. Es war das Jahrzehnt, in dem eine größere Öffentlichkeit noch unter dem Schock der „Grenzen des Wachstums“ stand und einige Soziologen an eine Kulturrevolution – hin zu postmateriellen Werten – glaubten. Turner hatte gerade CNN gegründet. Er plädierte mit leidenschaftlichem Pragmatismus für ein weltweites demokratisches Medium, das Milliarden von Menschen miteinander in Verbindung bringen würde. Er sagte: „Billions and billions of … Dollars“. Der Saal lachte. Turner grinste: „Äh, people …“, sorry, er stecke wohl noch im Jetlag.

Knapp zwei Jahrzehnte später ist CNN unter dem Druck von Milliarden und Abermilliarden von Dollars zur „Voice of America“ geworden, Ted Turner ist der Welt abhanden gekommen, gelegentlich stiftet er eine Milliarde für die UNO. Ein Sender für die demokratische Weltöffentlichkeit für all diejenigen, die eine andere Welt für möglich halten, ist ein schöner Traum geblieben.

Verlassen wir also das Reich der Träume, reden wir von Politik. Mit dem Irakkrieg treten wir ins Zeitalter des amerikanischen Imperiums ein – kaum ein politischer Begriff hat jemals weltweit so schnell Karriere gemacht wie dieser. Und selten zuvor, wenn nicht gerade Olympiade war oder eine Prinzessin in England stirbt, waren die Völker der Welt so einhellig einer Meinung. Offenbar reichen der gesunde Menschenverstand, die geschichtlichen Erfahrungen an vielen Weltenden, reicht das gewöhnlich materialistische Misstrauen gegenüber der US-Propaganda, um den Menschen eine Sicht der Dinge nahe zu legen, die nicht so weit entfernt ist von der Theorie, die Toni Negri in „Empire“ ausgelegt hat. Die Demonstrationen in aller Welt gingen über schlichte Friedenssehnsucht hinaus: Sie begehrten dagegen auf, dass die USA zum Bestimmer der Welt werden. Sie waren eine Demonstration für eine Welt der Vereinten Nationen.

Selbst die stagnationsbetäubten deutschen Intellektuellen wachten kurz auf, reagierten prompt auf des forschen Imperialisten Rumsfelds Kulturlosigkeit, sangen vom alten Kontinent, seiner Staatlichkeit, seinem Universalismus, von UNO, Völkerrecht und Politikprimat. Der Gegenschlag folgte auf der Stelle, als es dem State Department gelang, mit ein paar hilfswilligen Journalisten Europas politische Eliten zu spalten.

Aber vielleicht hat der Schock ja gesessen. Emmanuel Todds steile These, der Irakkrieg sei in Wirklichkeit einer zur Eindämmung Europas, steht auf den europäischen Bestsellerlisten, die Idee eines europäischen Außenministers, und hieße er auch Fischer, wird populär, und im nächsten Jahr bekommt Europa einen Generalstab. Wir brauchen eine multipolare Welt, sagen Kerneuropas Premierminister, und sie meinen: Wir müssen Europa auf eigene Füße stellen.

Sicher, eine europäische Armee ist nötig, aber eine andere Aufrüstung ist wichtiger, billiger und schneller. Das Gewaltmonopol der Amerikaner ist nicht zu brechen – aber vielleicht das andere Monopol? Auf die Definition dessen, was Freiheit, was Gerechtigkeit, was Zivilisation ist? Hollywood hat die Lufthoheit über die Träume in China, Chile und Finnland, CNN verbreitet die Stimme Amerikas in 212 Ländern der Erde, MTV prägt die Glücksbilder Nachwachsender auf allen Kontinenten. Liberalismus, Konsumismus, Amerikanismus – die erste Innovation der Besatzer in Bagdad war eine TV-Station, die Music-Clips und Reden von Bush ausstrahlt.

Die Privatisierung des Luftraums für die Murdochs, Berlusconis, Globos, die technische Herrschaft der USA über die Satelliten – und über die Knotenpunkte des Internets – ist mindestens genauso furchterregend wie ihre smarten Raketen. Vorausschauende Politik muss die mediale Verteidigungsfähigkeit Europas stärken. Die amerikanisierten Medien brauchen keine politische Zentrale, um gleichgeschaltet zu wirken. Europa aber hat – jedenfalls solange nicht überall italienische Verhältnisse herrschen – trotz der Kommerzialisierung immer noch ein System öffentlicher Medien, die von Parteien- und Werbemacht relativ unbehelligt wirken können.

Die Demonstrationen in aller Welt gingen über schlichte Friedenssehnsucht hinaus

Stellen wir uns also vor, es gäbe eine „Stimme Europas“, ein europäisches CNN, das in 212 Ländern der Erde empfangen werden könnte, auch im Mittleren Westen der USA. Stellen wir uns vor, Schröders und Chiracs Weltsicht hätte eine Stimme in der bunten Medienwüste der USA gehabt in den letzten Monaten, der unseren europäischen Weg der sozialen Demokratie verteidigen und propagieren würde, der gar die großen Herausforderungen des Jahrhunderts, Hunger, Wasser, Klima zum Thema machte, auf dem die Beauftragten der UNO für Kinder, Gesundheit und Arbeiterrechte so selbstverständlich erschienen wie Bush und die Börsenkurse heute auf CNN, in dem kein Multi durch Werbegeld die halbe Wahrheit noch einmal halbieren könnte.

Ein solches Global European Network, staatsfern und steuerfinanziert, das nur die nüchternen Tugenden von BBC, die universalistische Fantasie von Arte, die Solidität der ARD vereinte, wäre nicht so teuer wie die Aufrüstung Europas, aber es könnte die Welt verändern – na, sagen wir: ein bisschen. Und warum sollte die Initiative nicht von Deutschland ausgehen? Wir würden uns damit nur ein wenig revanchieren für das Aufbaugeschenk, das uns die angelsächsischen Länder nach dem letzten Weltkrieg machten: freie Medien, nur der Wahrheit verpflichtet, den Bürgern und dem Frieden. Es wäre eine Aufrüstung, vor der die Herren des Imperiums sich mehr fürchten müssten als vor einem europäischen Generalstab.

Aber die Stimme Europas – das ist ja nur das eine, ein notwendiger Akt der Selbstverteidigung der politischen Klasse. Ein Projekt für Schröder, Chirac & Co. Aber auch Ted Turners Traum sollte wieder auf die Tagesordnung, bevor der Luftraum zur Immobilie des Kapitals wird. Ein Sender, sagen wir: ein populäres Internet-Organ für die „Welt, die möglich ist“, mit Arundhati Roy und Susan George als Kommentatoren, mit Streit der Eliten und Gegeneliten: über WTO-Regeln und Software-Monopole und Menschenrechte, ein globales Forum, auf dem der Alltag der Machtlosen der Welt seinen Platz hätte – zum Frühstücksfernsehen die Schulwege der Kinder aus Sri Lanka und Stuttgart, am Nachmittag die Klagen der Frauen in São Paulo und in Midtown über ihre Männer und abends Barenboim und arabischen Rap und Paulo Coelho, weltweit, in einer Hand voll Großsprachen. Eigentlich ist das – ein typisch amerikanischer Traum.