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Archiv-Artikel

Skandal in Brüssel!

Aufregung im Europaparlament: Abgeordnete bedienen sich selbst, Statistik-Behörde nimmt’s nicht so genau, Anti-Betrugs-Behörde verfolgt Journalisten. Und im Sommer wird auch noch gewählt

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Bild und Stern blasen dieser Tage zum Generalangriff auf die „Abzocker aus Brüssel“ – ob Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf, ob Statistikamt Eurostat in Luxemburg oder die zwischen ihrem Wahlkreis, Straßburg und Brüssel pendelnden Europaparlamentarier: Alle kriegen ihr Fett ab. Im Europaparlament, wo am 13. Juni eine Wahl ansteht, liegen deshalb die Nerven blank. Und das führt zu denkwürdigen Zweckbündnissen.

Der ewige Mahner in Sachen Basisdemokratie, der dänische eurokritische Abgeordnete Jens-Peter Bonde, präsentierte am Dienstag in einer Art Kuriositätenshow den Brüsseler Stern-Reporter, der den Skandalen in der Kommission nachspürt und deshalb Besuch von der belgischen Justiz bekam: Kommen Sie alle und sehen Sie Hans-Martin Tillack! Den Journalisten, der eingesperrt wurde, weil er über Korruption berichtet hat!

Zwar wurde Tillack nicht eingesperrt, sondern als Zeuge vernommen, dabei nahmen die Beamten aber fast alle seine Unterlagen mit. Das war für Bonde und die Mitglieder seiner Empörungskoalition offensichtlich nicht skandalös genug – sie mussten die Fakten ein bisschen „verdichten“. An Bondes Seite der europakritische britische Konservative Heaton-Harris und die bayrische CSU-Haushaltskontrolleurin Gabriele Stauner – für die es eigentlich kein Problem sein sollte, sich von ihrem deutschen Landsmann Tillack erzählen zu lassen, wie der Besuch der belgischen Ermittlungsbeamten wirklich ablief.

Heaton-Harris, der im Auftrag seiner britischen Wähler im EU-Parlament ein enger zusammenrückendes Europa zu verhindern versucht, darf auch in der nächsten Legislaturperiode wieder mit flammenden Europafreunden wie Hans-Gert Pöttering in einer Fraktionsbank sitzen. Denn der EVP-Vorsitzende Pöttering hat rechtzeitig vor der Wahl ein Abkommen mit den britischen Konservativen geschlossen, das ihnen erlaubt, auch in Zukunft innerhalb der EVP gegen die EU zu wettern. Pöttering erkauft sich damit teuer das zweifelhafte Privileg, auch künftig Chef der größten Fraktion im EU-Parlament zu sein – zu der die Parteifreunde von Silvio Berlusconi ja ebenfalls gehören.

Die Sozialisten sind unterdessen auch nicht faul, wenn es darum geht, ihr Image weiter zu ruinieren. Der Sozialdemokrat Willy Rothley hat sich in der nun ablaufenden Legislaturperiode eigentlich nur mit der Frage befasst, ob die Abgeordneten auch künftig mit einer satten Büropauschale und einer großzügigen Transportvergütung rechnen dürfen oder ob sie künftig gar gezwungen werden sollen, jeden Bleistift und jedes Flugticket extra abzurechnen. Nach dem Scheitern der Vermittlungsgespräche mit dem Rat wirft er öffentlich Martin Schulz, dem Spitzenkandidaten seiner eigenen Partei, vor, eine Einigung in dieser Frage noch vor der Sommerpause torpediert zu haben.

Die fortbestehende Praxis, Reisen, Hotelkosten und Büroaufwendungen nicht gegen Quittung abzurechnen, sondern pauschal vergütet zu bekommen, hat der derzeit laufenden Bild-Kampagne erst die Grundlage geliefert. Der dubiose Ex-Spiegel-Reporter, Ex-Sozialdemokrat und demnächst Ex-Europaparlamentarier Hans-Peter Martin hat offensichtlich die ganze Legislaturperiode damit verbracht, seinen Abgeordnetenkollegen hinterherzuschleichen und zu protokollieren, ob sie von der Anwesenheitsliste weg in die Sitzung eilen oder nicht nachprüfbare Geschäfte an anderen Orten wahrnehmen.

Wegen Martins Diffamierungskampagne sahen sich letzte Woche in Straßburg auch deutsche Grüne, Konservative, Sozialisten und PDS-Abgeordnete zu einer großen Koalition veranlasst. Sie versuchten den Journalisten zu erklären, dass das von Hans-Peter Martin gegeißelte Verhalten kein Betrug sei, sondern der Parlamentssatzung entspreche.

Damit haben die Damen und Herren zwar Recht – sie wären aber besser beraten gewesen, in einer großen Koalition schon vor Jahren diese Satzung zu ändern und damit das Abrechnungswesen transparent und kostenorientiert zu machen. Den Vorwurf, Unterschriften gefälscht zu haben, können sie durch einen Grafologen leicht ausräumen. Den Vorwurf, das nette Nebengehalt aus Abrechnungsüberschüssen lieber in die Tasche gesteckt zu haben statt den Abrechnungsmodus zu ändern, schaffen sie vor der Wahl nicht mehr aus der Welt.