: Der Kanzler betet ein Vaterunser
Auf dem Kirchentag will die rot-grüne Regierung aus dem Stimmungstief herauskommen. Dafür faltet Gerhard Schröder gerne auch die Hände
aus Berlin BERNHARD PÖTTER
Der Kirchentag war noch keine 20 Minuten alt, da wusste der Kanzler bereits, was er von ihm mitnehmen würde: Einsatz für das Kioto-Protokoll zum Klimaschutz, Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt und Anstrengungen für den Frieden. Bei den 140.000 Christen beim Eröffnungsgottesdienst erntete Gerhard Schröder für diese Ankündigung viel Beifall.
Offenbar unter dem Eindruck der Predigt von Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser, die sich massiv und von Applaus unterbrochen für eine Entschuldung der ärmsten Länder einsetzte, hatte der Kanzler sein Konzept für ein Grußwort kurzerhand umgekrempelt. Statt warmer Worte gab es plötzlich eine politische Rede. Statt christlicher Versöhnung watschte der Kanzler vor dem Christenpublikum indirekt Politiker wie den stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz ab.
Merz hatte gefordert, der Bund solle seine Haushaltsnotlage dadurch verringern, dass er armen Ländern die Schulden nicht wie geplant erlasse. Schröders plötzliche Programmänderung kam „aus dem Bauch heraus“, hieß es gestern. Doch sie zeigt: Schröder, der mit Religion nicht viel anfangen kann („immerhin das Vaterunser hat er mitgebetet“, wurde beobachtet), fühlt sich unter den Christen wohl, weil sie ihm wohlgesonnen sind. Die Zeit, in der Kirchentage CDU-lastige Veranstaltungen waren, sind vorbei. Und die rot-grüne Regierung spielt ihren Bonus aus. So nimmt fast das gesamte Kabinett Schröder am Kirchentag teil. Kanzler, Außen- und Innenminister, Ressortchefs und Staatssekretäre aus fast allen Ministerien diskutieren auf den Podien. Die Union beschwert sich offen darüber, dass etwa Parteichefin Angela Merkel zwar die Bibel auslegen darf, aber auf den politischen Podien fehlt. „Da gibt es eine eindeutige Schieflage zugunsten der Regierung“, sagt Hermann Kues, Kirchenexperte der CDU-Fraktion. Rot-Grün nutzt den Kirchentag, um sich bei den Wählern und den eigenen Parteimitgliedern im positiven Licht zu zeigen.
Im politisch-gesellschaftlichen Themenbereich „Welt gestalten – in Verantwortung handeln“ des Programms „finden sich doch lauter grüne und rot-grüne Themen“, freut man sich in der grünen Bundestagsfraktion. Und drei Tage vor dem entscheidenden Sonderparteitag der SPD zur Agenda 2010 ersparen die Kirchen der Regierung sogar eine breite Debatte über die Pläne zum Sozialumbau. Kein Vergleich zu den hitzigen Debatten auf Kirchen- und Katholikentagen zu Umwelt, Nachrüstung oder Asylpolitik. Abgesegnet wurden die Vorschläge der Agenda 2010 bereits von den Oberhirten. EKD-Ratsvorsitzender Manfred Kock und der Chef der katholischen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, nannten Schröders Reformpläne „im Grundsatz unbedingt norwendig“, man brauche „Mut, etwas zu ändern“, weil das „absehbare Ende des Finanzierbaren“ gekommen sei.
Zwar protestierte die „Initiative Kirche von unten“ gegen diese „ökumenische Taufe der Agenda 2010“, die in der „Flucht aus der Verantwortung für die Schwächeren“ ende. Und auch der katholische Sozialexperte Friedhelm Hengsbach kritisiert, dass die Agenda 2010 „ohne Alternative verteidig“t werde. Doch richtig laut wird diese Kritik auf dem Kirchentag nicht.
Auch die Unionsparteien beschweren sich über den Bonus, den die Regierung bei den Diskussionen bekommt. „Politische Willensbildung braucht breitere Repräsentation“, meint Hermann Kues. Für die grüne Kirchenexpertin Christa Nickels hat die Union dagegen viel zu lange auf die persönliche Freundschaft von Exkanzler Helmut Kohl und Kardinal Karl Lehmann gesetzt. „Der Kanzler wird daran gemessen werden, was er bei der Eröffnungsfeier versprochen hat“, meint Nickels. Sie glaubt, dass Schröder es ernst meint: „Schröder meinte früher, er könne alles selbst wuppen. Heute weiß er, dass er bei vielen Dingen von anderen getragen sein muss. Er hat Demut gelernt.“