: Jazz in New York – ganz privat
Der Hinweis kam von einer begeisterten Wahl-New-Yorkerin, aber auf dem Weg zum Jazz-Geheimtipp von Harlem konnteman dann doch ins Zweifeln kommen: ein Jazznachmittag in der besonderen Atmosphäre bei Marjorie im Wohnzimmer
Die Edgecombe Avenue ist eine stille Wohnstraße hoch im Norden von Harlem, von Jazzclubs oder Lokalen ist hier keine Spur. Nr. 555 schließlich ein ganz normales Wohnhaus. Wir durchqueren eine marmorne Eingangshalle. Es ist Sonntag und um 4 p.m. soll das Konzert beginnen, aber hier ist weit und breit kein anderer Mensch. Wir fragen an der Hausmeister-Loge im Erdgeschoss. „Marjorie Eliot? Ja, dort die Treppe hoch.“ Ein dunkler Gang mit mehreren Wohnungstüren. Nr. 3F ist nur angelehnt und jetzt sind auch Klavier- und Saxofonklänge zu hören.
Wir klingeln. Ein schwarzes Paar öffnet die Türe und strahlt: „Oh, welcome. Come in.“ Wir fühlen uns wie freudig erwartete Partygäste. Ein schmaler Gang führt ins Wohnzimmer: schummrig gelb-blaue Beleuchtung über einem Flügel. Ansonsten nur vier Reihen Klappstühle, voll besetzt mit etwa dreißig bis vierzig Besuchern. Ein bunt gemischtes Publikum aller Altersgruppen, Herkünfte und Hautfarben. Auf die Heizung kann man sich noch setzen, aber viele stehen auch bis hinein in die ans Wohnzimmer angrenzende Küche. Ein roter, an Fruchtbonbons erinnernder Cocktail wird gereicht und Plätzchen machen die Runde.
Marjorie, eine schlanke Mittfünfzigerin, das Haar in geflochtenen Zöpfchen zum seitlichen Pferdeschwanz drapiert und ganz die strahlende Gastgeberin, geht zum Klavier. Sédric Choukroun begleitet sie. Der französische Saxofonist war vor Jahren hier aufgetaucht, nur einfach so zum Zuhören. Heute gehört er dazu. „Marjorie hatte mitbekommen, dass ich Jazzmusiker bin, und sprach mich damals gleich an, ob ich spielen kann. Ich bejahte es und da sagte sie: „Los, spiel!“, erinnert sich Choukroun im Gespräch nach dem Konzert. „Ich war damals als Tourist in New York. Ich kam aus Paris und man kann nicht sagen, dass dort nichts los ist im Jazz. Aber an diesem Nachmittag wusste ich, ich muss nach New York, hier lebt der wirkliche Jazz.“
Marjorie war fünf, als sie begann Klavier zu spielen. Schon damals wollte sie Schauspielerin und Sängerin werden. Sie wuchs in Philadelphia auf, verlor ihren Vater, als sie zehn war. Ihre Urgroßmutter arbeitete als Köchin für eine reiche, weiße Familie, und zog dabei drei Generationen groß. „Trotzdem“, sagt Eliot, „bin ich in dem Geist aufgewachsen, dass alles möglich ist.“
Doch der amerikanische Traum erfüllt sich nur langsam. Als sie älter wird, merkt sie, die professionelle Unterhaltungsbranche ist für Schwarze weitgehend verschlossen. Aber Eliot bleibt ihrem Traum treu. Sie zieht zu ihrem Onkel nach Harlem in die Edgecombe Avenue, in die Wohnung, die sie inzwischen geerbt hat. Ihr Onkel arbeitet tagsüber als Liftboy und ist ansonsten Musiker. Jazzgrößen wie Johnny Hodges und Andy Kirk wohnen gleich nebenan. Der Onkel nimmt die junge Musikbegeisterte mit in die Clubs, wo sie schließlich ihren Mann kennen lernt, den Schlagzeuger Rudel Drears. Und am Ende wird auch sie in der Jazz-Szene von Greenwich Village bekannt.
Als 1992 ihr Sohn Phillip – auch er Musiker – gerade 27-jährig an Nierenversagen stirbt, erlebt sie die Kraft des Jazz. „Ich spielte stundenlang Klavier, und das gab mir Trost.“ Am Jahrestag seines Todes räumt sie ihr Wohnzimmer leer und beginnt mit den Privat-Konzerten. Zu seinem Andenken setzt sie fort, was sie schon als Kind erlebt hat: Musik um der Freude willen.
Der Wohnzimmer-Jazz setzt aber auch ein Signal: „Mir gefiel die Richtung nicht, in die die Jazzszene geht. In den Clubs fragt man dich, wie viele Kunden du anziehst. Wie kannst du dein Bestes geben, wenn dir jemand so im Nacken sitzt?“ Mit Mann und Sohn Rudel, dem Bassisten Bob Cunningham und Sédric Choukroun gründet sie ihre eigene Band „Parlor Entertainment“ und tut, was schon seit Kindertagen zu ihrer Kultur gehört: daheim musizieren und dazu Freunde einladen. Geld ist hier nicht das Thema. „Sonntags hier zu spielen ist für mich wie Gottesdienst“, sagt Cunningham, der Bassist. „Es ist wunderbar“, findet auch Sédric Choukroun. „Jazzgrößen gehen hier ein und aus, weil sie sich einfach freuen, frei spielen zu können.“
Die Musiker sind unter sich und die Zuhörer mittendrin. Das Spiel hat die Intimität einer Probe unter Freunden. Die Musiker spielen leise, können besser aufeinander reagieren, ihr Zusammenspiel ist intensiv, die Klänge verbinden und das Gefühl, freundschaftlich angenommen zu sein, erhöht den Mut, zu probieren, was man nie zuvor gewagt hat. Für manche im Publikum ist das eine neue Erfahrung, für andere ist Marjories Wohnzimmer-Jazz Treffpunkt und wöchentlicher Musikgenuss geworden. Die Konzerte sind gratis. Am Ausgang steht eine Schale, in der man eine Spende hinterlassen kann. Das Prinzip funktioniert – seit nunmehr zehn Jahren.
RENATE BERBHARD,
SIGRID DETHLOFF