: Der Fall der Literaturkritik
Pünktlich zum Jahrestag der Walser-Debatte erscheint mit „Der Ernstfall“ ein Sammelband über Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“. In diesem werden die gegen Walser erhobenen Antisemitismus-Vorwürfe vollauf entkräftet, aber auch die komplexen Motivlinien des Romans sichtbar gemacht
von JÖRG MAGENAU
Nein, es starb kein Kritiker. Nicht im Roman, in dem sich vielmehr ein schizophrener Dichter in den Tod stürzte, und noch viel weniger in der Wirklichkeit. Aber vielleicht wird man später einmal sagen, dass Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ das Ende der Literaturkritik als seriöser Disziplin in der bürgerlichen Öffentlichkeit eingeläutet habe. Was als „Fall Walser“ vor genau einem Jahr die Feuilletons alarmierte, erscheint jedenfalls mit einigem Abstand eher als Fall einer Literaturkritik, die jedes Maß verlor. Es begann mit Frank Schirrmachers offenen Brief, in dem er erklärte, warum die FAZ diesen Walser-Roman entgegen bisheriger Gewohnheit nicht vorabdrucken könne. Er „spiele mit antisemitischen Klischees“ und hege Mordfantasien gegen Marcel Reich-Ranicki, auf den er nicht in seiner Eigenschaft als Kritiker, sondern als Jude ziele, eines Überlebenden des Holocaust zumal.
Schirrmachers Pamphlet wirkte als Schock. Weil zu diesem Zeitpunkt niemand den Text kannte, setzte ein Wettlauf um die geschwindeste Lektüre ein. Über Nacht verwandelten sich Kritiker in Gesinnungspolizisten, die bedenkliche Stellen auflisteten, um den Verdacht zu erhärten. Schon die zu lang geratene Nase einer Figur sollte nun gegen den Autor sprechen. In den Feuilletons setzte ein regelrechter Übertrumpfungswettbewerb mit Ekelbekundungen und Geschmacklosigkeitszertifikaten ein. Die Verteidiger blieben vorsichtig und in der Minderheit. Als das Buch einen Monat später erschien, war die Kritik schon fertig damit. Für die Leser war es unmöglich, den Text unabhängig vom vorgegebenen Rezeptionsmuster zur Kenntnis zu nehmen: Antisemitisch – ja oder nein? Der Präventivschlag war zum Mittel einer Literaturkritik geworden, in der das abschließende Urteil durch den vorgezogenen Schuldspruch ersetzt worden war. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass Walsers „Tod eines Kritikers“ noch zu entdecken ist, weil allzu viel über dieses Buch geredet wurde.
Die Literaturwissenschaft hat den Vorzug, sich nicht um saisonale Aufgeregtheiten kümmern zu müssen. Sie hat die Zeit, die den Zeitungsredaktionen fehlt, und damit die Chance, den Gegenstand, um den es geht, unter dem Geröll der Debatte freizulegen. Das ist eine archäologische Tätigkeit. Im besten Fall funktioniert die Germanistik als Korrektiv der Literaturkritik, indem sie es auf den Ernstfall ankommen lässt. Ihr Ernstfall aber ist die Interpretation. „Der Ernstfall“ heißt folglich in schöner Doppeldeutigkeit ein von Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel herausgegebener Sammelband über Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, der nun, pünktlich zum Jahrestag der Debatte und zur Veröffentlichung der Taschenbuchausgabe des inkriminierten Werks, erschienen ist.
Überwog im Feuilleton der staatsanwaltliche Ton der Anklage, so hat nun die Verteidigung das Wort. Alle Beiträger – Germanisten, ein Psychiater, ein Jurist und der chinesische Übersetzer Walsers – sind sich darin einig, dass der Anklagepunkt „Antisemitismus“ unhaltbar ist. „Tod eines Kritikers“ sei „nicht nur kein antisemitisches Buch“, meint etwa der Literaturwissenschaftler Horst-Jürgen Gehrigk, sondern zeige „im Gegenteil die Geburt antisemitischer Klischees aus dem Geist des Ressentiments“. Franz Loquai liest den Roman als „Lehrstück über den Kulturbetrieb“, in dem es „um Fragen des Selbstverständnisses eines Schriftstellers“ gehe. Nicht allein das Leiden unter der neuartigen Machtfülle des Kritikers sei Gegenstand der Satire, meint Leo Kreutzer, sondern „die Auslieferung der Literaturkritik an eine Unterhaltungs-Industrie“.
Walser hat in seiner Satire die Verbreitung und Instrumentalisierung antisemitischer Klischees so gekonnt und konsequent beschrieben, dass die sich daran anschließende Mediendebatte nur eine Wiederholung und Überbietung der bereits im Roman vorgetragenen Sprechweisen war. Der Germanist Helmuth Kiesel verlängert nun die Wirklichkeit ins Absurde hinein. Er steuert für den Sammelband Tagebuchauszüge aus dem Jahr 2002 bei. Da verzeichnet er auch die Meldung, dass für den Tag der Deutschen Einheit eine Menschenkette von Frankfurt nach Nußdorf, zum Wohnort Walsers, geplant sei. Und in der Universität will er ein Seminar über Büchner absagen, weil in dessen Werk erst noch einige ungeklärte Stellen geprüft werden müssen.
Der Antisemitismusvorwurf, den zu entkräften Sinn dieser Aufsatzsammlung ist, gerät rasch in den Hintergrund. Sichtbar werden stattdessen die komplexen Motivlinien in Walsers Roman, der keineswegs bloß als Schlüsselroman und Kolportage gelesen werden kann: die Strukturähnlichkeiten mit Thomas Manns „Doktor Faustus“ und die Paraphrasen auf Goethes „Prometheus“ etwa, die Leo Kreutzer herausarbeitet. Die Theorie der Selbsterkundung im Selbstgespräch, die Walser in der Linie vom Mystiker Heinrich Seuse bis zu Friedrich Nietzsche entwickelt. Oder die werkimmanenten Bezüge, vor allem zum Roman „Ohne einander“, in dem es bereits eine ähnliche Kritikerfigur gab, und zur Rede „Über Päpste“ von 1977, in der Walser sich erstmals gegen Reich-Ranicki und die Macht der Kritik zur Wehr setzte. Der hatte zuvor den Roman „Jenseits der Liebe“ aufs Gröbste verrissen.
Walser Lebensthema ist Machtausübung und Abhängigkeit. In der Abhängigkeit des Autors von der Fernsehkritik erfährt es eine weitere Variante. Solange es in seinen Romanen um Direktoren, Zahntechniker oder Immobilienmakler ging, konnten auch Kritiker das lustig finden, meint Norbert Greiner, in eigener Sache aber fehle ihnen plötzlich der Humor. Greiner wirft einen Blick auf englische Reaktionen, die die deutsche Aufregung um „Tod eines Kritikers“ einigermaßen fassungslos zur Kenntnis nehmen. Englische Leser, deren satirische Lektüreerfahrung durch Jonathan Swift und Evelyn Waugh geprägt sei, könnten in Walsers Satire allenfalls einen „dünnen Aufguß“ erkennen, dem es an Würze fehle. Die deutschen Kritiker aber könnten mit Walsers Ironie nichts anfangen, weil hierzulande die Tradition der derben Komödie unterentwickelt sei: „Jeder, der sich nicht an das Konzept biederer ideologischer Rechtschaffenheit anschmiege, werde bereitwillig missverstanden.“
Aufschlussreich ist folglich Dieter Borchmeyers Lesart des Romans als Komödie. Er interpretiert die Figur des Kritikers Ehrl-König als Variation der „ewigen komischen Figur, die nicht umkommen kann, was auch immer ihr widerfährt“. Sie steht immer wieder auf wie der Clown, der alle Schmerzen und Demütigungen scheinbar unbeeindruckt wegsteckt. Borchmeyer widerspricht damit Frank Schirrmacher, der den Romansatz „Umgebracht werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König“ als Anspielung auf den ewigen Juden verstand und damit ein weiteres Antisemitismusverdachtsmoment präsentierte. Dass das zu kurz gegriffen sein könnte, deuten schon die Verse an, die Walser zum 65. Geburtstag Reich-Ranickis, damals noch mit ihm befreundet, schrieb: „Clowns sind wir, der Zirkus heißt Kultur, / Unsre Nummer: Watschen mit Gesang. / Streicheln dürfen wir uns nur / Draußen in dem dunklen Gang.“
Walser hat viel Erfahrung darin gesammelt, missverstanden zu werden. In den Siebzigerjahren galt er als Kommunist, in den Achtzigern als Nationalist, als Brandstifter in den Neunzigern und schließlich als Antisemit. Stets ist es ihm gelungen, den jeweils schlimmsten Vorwurf der Epoche auf sich zu ziehen. Wäre er ein Mittelstürmer, dann einer vom Typus derer, „die dahin gehen, wo’s wehtut“. Diskurstechnisch betrachtet ist das die Stelle, an der sich die korrekte Rede formiert, wo Sprachübereinkünfte an der Meinungsbildungsfront zementiert werden, die Walser als Machtmanifestationen erfährt. Er hat sich deshalb immer heftiger vom „Meinungsgewerbe“ distanziert, ohne es doch jemals lassen zu können, selbst etwas zu meinen und sich immer wieder auf provozierend unkorrekte Weise einzumischen. Doch je heftiger die Reaktionen der Korrektheitswächter, umso drastischer hat er Recht. Das ist das Elend.
Die Literatur aber, so viel sollte man zubilligen, ist ein Feld, in dem es nicht ums Rechthaben geht. „Literatur und Recht-haben-Wollen vertragen sich nicht“, sagt Martin Walser. Und: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Man muss diese Sätze ernst nehmen, wenn man ihn liest.
Dieter Borchmeyer, Helmuth Kiesel (Hg.): „Der Ernstfall. Martin Walsers Tod eines Kritikers“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 288 Seiten, 17,90 €